Komponisten & Werke

Begegnung in einem reichen, aber fragilen Kosmos

08.06.22 | Martina Seeber

Mark Andres Solokompositionen entstehen in intensiver Zusammenarbeit mit Interpreten, die sich von ihm weit aus der Komfortzone locken lassen, wie der Kontrabassist Frank Reinecke. Martina Seeber führte mit beiden ein Gespräch über das Werk Sie fürchteten sich nämlich für Kontrabass, welches am 30. Juni 2022 im Herkulessaal aufgeführt wird. Frank Reinecke über das Stück: „Es ist ein hochriskanter Umgang mit großen zeitlichen Räumen und Aufweitungen.“

Mark Andre © Astrid Ackermann

SEEBER: Mark, was hattest Du vor diesem Stück für ein Verhältnis zum Kontrabass? War das für Dich das tiefe Instrument im Hintergrund, das Fundament, das mit den dicken Saiten, die relativ langsam in Gang kommen?

ANDRE: Ich habe natürlich früher schon für Kontrabass geschrieben. Durch die Zusammenarbeit mit Frank und durch das Komponieren dieses Werks hat der Kontrabass für mich ein anderes Idiom angenommen, ein Idiom, das eine Musik des Verschwindens verkörpert. Ich möchte das ganz kurz erläutern, um nicht missverstanden zu werden: Verschwinden ist hier weder negativ, noch psychologisch-dekonstruktivistisch gedacht, es bezieht sich vielmehr auf eine theologische Kategorie.

SEEBER: Du arbeitest auch ganz konkret mit dem Material und Du bist jemand, der sehr genau untersucht und analysiert. Was hast Du am Kontrabass untersucht? Was hat Dich daran interessiert?

ANDRE: Da gibt es zum Beispiel die Umstimmung oder Skordatur der tiefen Saite und die Situation einer kompositorischen Zwischenraumzeit, die sich daraus entfaltet. Dabei geht es nicht nur um die Veränderung der Tonhöhe. Es geht um eine andere Klanggestaltung. Extrem graduierte Klänge werden instabil durch diese Art der Granulation. Das bedeutet, eine Art Idiom verschwindet und etwas ganz Anderes entfaltet sich.

SEEBER: Ist das ein viersaitiger oder ein fünfsaitiger Kontrabass?

REINECKE: Ein normaler viersaitiger Kontrabass, der allerdings im Laufe des Stücks umgestimmt wird: ein ungeheurer Moment. Durch das Wandern durch die Fragilitäten und Zerbrechlichkeiten vollzieht sich ein dramatischer Wechsel zwischen zwei Wahrnehmungsebenen. Das passiert genau durch ein Hinunterstimmen. Damit ist Mark eine Stelle gelungen, die ich als den Höhepunkt des Werkes ansehe. Über eine Zwischenstation spielen wir die tiefe E-Saite an, der tiefste Ton des viersaitigen Kontrabasses, und dann stimmen wir ihn in einer sehr langsamen Glissandobewegung um eine ganze Oktave nach unten, bis zum Subkontra-E, das ein sehr, sehr tiefer Klang ist, der, rechnerisch gesehen, bei 20,5 Hz, also 20,5 Schwingungen pro Sekunde liegt.

[…]

SEEBER: Mark, kannst Du etwas zur Struktur des Stücks sagen? Man braucht man ja auch ein starkes formales Gerüst, oder?

ANDRE: Ja, in der Tat, die Problematik der formalen Gestaltung und formalen Entfaltung ist generell schon eine Herausforderung, aber was dieses Stück betrifft, war sie es ganz besonders. Unter uns – ich würde fast sagen, dass die formale Gestaltung des Stücks sich von selbst fortgesetzt hat. Das heißt, ich bin sehr aufmerksam auf den Atem, auf die Klanggestalten, auf die idiomatische Ausstrahlung und ich habe diese Dinge atmen lassen. Es geht um das Beobachten-Lassen dieser Zwischenräume bzw. Zwischenzeiträume. Nüchtern gesagt ging es um die höchste Stufe der Intensität, meiner Einschätzung nach.

[…]

REINECKE: Also ich finde das extrem energiegeladen: die Art, wie Du Form entstehen lässt oder wie Form aus dem Gesetz der Einzelklänge entsteht, so wie ein Ozean auch aus lauter Atomen besteht. Ich habe vorhin schon diesen großen Vergleich gewagt: die Metapher der Symphonie. Und ich finde, auch die Form dieses Werks hat etwas, das mich daran erinnert. Es ist ein hochriskanter Umgang mit großen zeitlichen Räumen und Aufweitungen. Gerade der Anfang, der eigentlich ein Atmen ist, wo ich als Spieler gar nicht das Gefühl habe, etwas innerhalb eines zeitlichen Rasters zu tun. Es geht eigentlich in die Zeitwahrnehmung hinein, wie wir sie als Menschen haben, was man so schön beim Augustinus lesen kann …

ANDRE: … im 11. Kapitel in den Bekenntnissen (Augustinus: Confessiones, 11. Buch, Anm. d. Redaktion).

Das vollständige Interview mit Franck Reinecke und Mark Andre finden Sie im Programmheft des Konzerts am 30. Juni 2022.

Mehr zum Konzert am 30. Juni 2022


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