Philippe Manoury © Tomoko Hidaki
4. Dezember 2024 | Patrick Hahn

»Die Antizipation ist ein fundamentaler Motor der Musik.«

Weil Antizipation für Philippe Manoury „ein fundamentaler Motor der Musik“ ist, widmet der französische Komponist sein Orchesterwerk der Vorstellungskraft des Hörens: Anticipations für großes Orchester ist ein Kompositionsauftrag von musica viva, Casa da Música Porto und Radio France.

Bei der Deutschen Erstaufführung im musica viva-Konzert am 20. Dezember wird sich der Herkulessaal der Residenz auf ungewöhnliche Weise öffnen: sogenannte »Whistleblower« sind anfangs außerhalb des Saals platziert und erobern sukzessive das Orchester auf der Bühne. Patrick Hahn über die Musik von Philippe Manoury – und über das Futur in der Musik.

Nennen Sie es eine steile These, nennen Sie es eine böse Unterstellung: Sehr viele Menschen gehen gar nicht ins Konzert, um Musik zu hören, sondern um sich an musikalische Erfahrungen zu erinnern. Wie sonst erklärt sich die deutliche Orientierung, man könnte auch sagen: Fetischisierung, einer sehr begrenzten – und zunehmend sich verkleinernden – Zahl von »Klassikhits«, die – ungeachtet, ob sie dieser Epoche im strengen Sinne zugerechnet werden können – in den »Klassik-Tempeln« (und zunehmend auch den »Klassik-Radios«) unablässig programmiert werden. In keiner anderen zeitgenössischen Kunstform, nicht im Theater, nicht in der Literatur, nicht in der bildenden Kunst, gibt es eine derart große Orientierung an der Vergangenheit wie in der Musik. Das mag ein Stück weit daran liegen, wie sich die Musik in den vergangenen rund 120 Jahren entwickelt hat. Denn eines kann man nicht bestreiten: seit die Komponistinnen auf die Tonalität als Grundteig, auf Funktionsharmonik als Gärhefe und meist auch auf melodische Bildungen im herkömmlichen Sinne verzichten – seither ist es schwieriger geworden, beim Hören, zumal beim allerersten, voraus zu ahnen, wie es in der Musik weiter geht. Ein Spiel mit den Erwartungen, ein »Hereinlegen« des Hörers mit Hilfe eines »Neapolitaners« (wie die Moll-Subdominante mit Sexte statt Quintton genannt wird) wie von Joseph Haydn noch gerne praktiziert, wird dadurch verändert. Das Erzeugen eines musikalischen Doppelpunkts, wie ihn der Quartsextakkord vor der Kadenz in einem Mozart-Konzert darstellt, wird erschwert.

Sind solche Gestaltungsmöglichkeiten den Komponistinnen dadurch abhandengekommen? Philippe Manoury blickt optimistischer auf die Situation: »Man kann in der Musik Prozesse beobachten, wie man Pflanzen beim Wachsen zusieht – und auch wenn es keine Kadenzen mehr gibt wie bei Mozart, so kann man doch vielleicht vorausahnen, ob ein Vorgang sich immer weiter verdichtet oder im Gegenteil ausdünnt, ob eine Linie nach oben weitergehen wird oder nach unten, langsamer wird oder schneller.« Dieses Spiel mit der Vorstellungskraft des Publikums ist Thema seines Orchesterstücks Anticipations. »Die Antizipation ist ein fundamentaler Motor der Musik. Wenn man Musik hört, versucht man, und wenn es unbewusst geschieht, das Kommende vorauszuahnen.« Diese Gabe macht uns alle zu Propheten: »Wir verfügen über die Fähigkeit, etwas über die Zukunft zu wissen, wenn auch nicht alles.« Es zeichnet das Schaffen von Philippe Manoury aus, dass er seine Gestaltungsmittel in einem engen Austausch zwischen der Forschung auf dem Gebiet der elektroakustischen Musik im elektronischen Studio einerseits und der instrumentalen Praxis, im Komponieren für Sinfonieorchester andererseits gewonnen hat. In einem groß angelegten Orchesterzyklus hat er in den vergangenen Jahren das Sinfonieorchester neu zu denken begonnen, als ein vielstimmiger Klangkörper, der so polyphon ist wie unsere Gesellschaft – und weniger hierarchisch organisiert als es die Sinfonien der letzten 200 Jahre vorgeben.

[…]

Auch in Anticipations bricht Manoury aus der Konvention aus. Neben dem Orchester auf der Bühne gibt es zwei Gruppen von je fünf Musiker:innen, die er als »Whistleblower« bezeichnet. »Bläser« sind sie im Wortsinne: Gruppe A besteht aus Flöte, zwei Oboen und zwei Trompeten, Gruppe B aus Flöte, zwei Klarinetten und zwei Posaunen. Beide sind zunächst außerhalb des Konzertraums platziert und verändern ihre Position im Laufe des Stücks. Auch der weitere Orchesterapparat ist unterteilt in gemischte Gruppen. Gruppe C umfasst die übrigen Holzbläser (sämtliche Stimmen sind vierfach besetzt!), Gruppe D zwei Hörner, Trompete und Posaune, Gruppe E zwei Hörner, Trompete, Posaune und Tuba, Gruppe F drei Schlagzeugstimmen und das Klavier, Gruppe G die Streichinstrumente.

[…]

Am Ende verleiten die Whistleblower das Orchester zu einem großen Gesang, in dem das Orchester zu einem symbiotischen Klangstrom verschmilzt. Ein Ideal des Mischklangs, wie ihn vielleicht Richard Wagner in seinem Parsifal erstmals verwirklicht hat und wie Manoury ihn hier aus dem Widerstreit der Stimmen und der Orchestergruppen erneut und erneuert aufsteigen lässt. Fast wäre man versucht, darin eine gesellschaftliche Utopie zu hören. Eine Hoffnung, die daraus erwächst, dass wir die Stimmen wahrnehmen, die uns beschwören und animieren, warnen und leiten – und uns helfen können, eine neue, freie Gemeinschaft zu bilden. Das wären schöne Zukunftsaussichten.

Der vollständige Text erscheint im Programmheft zum musica viva-Konzert am 20. Dezember 2024.

Symphonierochester des Bayerischen Rundfunks mit David Robertson

Werke von Bernhard Lang, Unsuk Chin und Philippe Manoury

Freitag, 20. Dezember 2024, Herkulessaal der Residenz

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