Unsuk Chin © Ernst von Siemens Musikstiftung/Rui Camilo
4. Dezember 2024 | Dirk Wieschollek

»Die große Form ähnelt einem Labyrinth.«

Das musica viva-Konzert am 20. Dezember steht im Zeichen des 75-jährigen Jubiläums des Bayerischen Rundfunks und des BRSO. Auf dem Programm steht unter anderem Unsuk Chins Violinkonzert Nr. 2 mit dem Titel Scherben der Stille. Eigentlich wollte die aus Korea stammende Komponistin nie ein zweites Violinkonzert schreiben – doch der einzigartige Musiker Leonidas Kavakos konnte sie umstimmen.

Dirk Wieschollek über die Genese der Komposition, das Klangbild der Scherben und die Musik von Unsuk Chin, die in diesem Jahr den Ernst von Siemens Musikpreis erhielt.

Unsuk Chin hat in ihrem vielgestaltigen Schaffen nur selten auf traditionelle Gattungen und Besetzungsformen Bezug genommen. Zu energetisch und frei bricht sich die Klangfantasie der koreanischen Komponistin Bahn, um durch formale Raster eingeengt zu werden. Umso auffälliger erscheint auf den ersten Blick ihre regelmäßige Hinwendung zur traditionsreichen Form des Solokonzertes. Vergegenwärtigt man sich jedoch, wie intensiv Chin die expressiven und klangfarblichen Potentiale des großen Orchesterapparates in immer neuen Facetten ausschöpft, wundert diese Affinität zum Solokonzert wenig, zieht das Spannungsverhältnis von solistischer Expressivität und kollektivem Gestaltungsprozess doch in der Regel besonders ereignisreiche Klangdramaturgien nach sich. So entstanden im Laufe von 25 Jahren herausragende Gattungsbeiträge für Klavier (1996/97), Violine (2001 und 2021), Klavier und Schlagzeug (2002), Violoncello (2006-08), die chinesische Mundorgel Sheng (2009) und Klarinette (2014).

Einige Konzerte Chins sind naturgemäß durch die Zusammenarbeit mit herausragenden Solisten motiviert worden. Neben dem für Alban Gerhardt geschriebenen Cellokonzert trifft dies besonders auf das 2. Violinkonzert (2021) zu. Eigentlich hatte Unsuk Chin sich vorgenommen, für jedes Soloinstrument potentiell nur ein Konzert zu schreiben. Ihre langjährige Faszination für das Spiel des griechischen Geigers Leonidas Kavakos brachte sie jedoch letztlich zur Aufgabe ihres Prinzips und sie schrieb ihr neues Violinkonzert eigens für ihn. Insofern unterscheidet sich das zweite Violinkonzert mit dem Titel Scherben der Stille auch deutlich vom 20 Jahre zuvor konzipierten ersten Violinkonzert (2001; rev. 2023), das in vier kontrastiven Sätzen, die durchaus klassische Satzcharaktere anklingen lassen, das Soloinstrument oft als integralen Teil der Gesamttextur auffasst. Das einsätzige 2. Violinkonzert ist hingegen ganz aus der musikalischen Persönlichkeit von Kavakos und seinen interpretatorischen Fähigkeiten heraus entwickelt, wie Chin betont hat. Der Solist befindet sich denn auch – entgegen den möglichen Assoziationen des Titels – praktisch im Dauereinsatz. Auch wenn »klassische« Kadenzen im Sinne unbegleiteter virtuoser Solo-Passagen fehlen, ist der technische Anspruch des Werks enorm, alles Virtuose jedoch in die Entwicklung eines diffizilen Klanggeschehens eingebunden, also eher nach Innen als nach Außen gerichtet. Die Komponistin über das Verhältnis von Solist und Orchester: »Der Part der Solovioline bildet das Fundament des gesamten Werks, in dem sämtliche Aktionen und Impulse des Orchesters vom Solisten ausgelöst werden. Die Musik ist sehr kontrastreich: Das musikalische Gewebe entsteht aus absoluter Stille heraus, wird aber – daher der Titel des Werks – übergangslos harten Kanten, klanglichen Scherben und prägnanten Ausbrüchen gegenübergestellt, aus denen sich neue Formen entwickeln.«

Die Komponistin beschrieb die Kontrastdramaturgie und ihre überraschenden Beleuchtungswechsel so: »Die motivische Protozelle führt zu einer Vielfalt an Formen, die manchmal an ein empfindsames Lied erinnern, dann zu einem ritualartigen, wiederholten Pochen und gegen Ende des Stücks zu schreiartigen ›Schlägen‹ werden. Diese Veränderungen erfolgen mitunter in flüssigen Übergängen, nehmen häufig unerwartete Wendungen oder bilden harte Gegensätze.« Strukturelle Vereinheitlichung und expressive Kontraste gehen hier Hand in Hand: »Die große Form des Werkes ähnelt einem Labyrinth.« (Chin) Die Wege durch dieses Labyrinth führen jedoch wieder dorthin, wo die Violine begonnen hatte: in ein einsames Präludieren brüchiger Obertonklänge. Nach einem massiven Crescendo reißt die Musik im fünffachen Forte ab, als hätte jemand ungefragt den Stecker gezogen. […]

 

Der vollständige Text erscheint im Programmheft zum musica viva-Konzert am 20. Dezember 2024.

Symphonierochester des Bayerischen Rundfunks mit David Robertson

Werke von Bernhard Lang, Unsuk Chin und Philippe Manoury

Freitag, 20. Dezember 2024, Herkulessaal der Residenz

Konzertinfo

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