Arditti Quartet © Manu Theobald
12. September 2024 | Julian Kämper

»Die große Überschrift lautet Neugier«

Der Cellist Lucas Fels gehört seit 2006 zum weltweit renommierten Arditti Quartet, das inzwischen auf sein 50-jähriges Bestehen zurückblicken kann. Aus diesem Anlass präsentiert die musica viva am 29. September in der Allerheiligenhofkirche ein Streichquartett-Programm mit Werken von Sarah Nemtsov, Helmut Lachenmann und – in memoriam – Wolfgang Rihm, der sein 5. Streichquartett 1981 dem Arditti Quartet widmete. Im Gespräch mit Julian Kämper spricht Lucas Fels über Repräsentation, Repertoire und Reflexionen.

Kämper: Sie haben mit dem Arditti Quartet allein in diesem Jahr schon zahlreiche Stücke uraufgeführt. Können Sie Tendenzen benennen, wie Komponist*innen im Jahr 2024 mit der Gattung Streichquartett umgehen?

Fels: Wir alle haben immer dieses Bedürfnis, irgendwelche Tendenzen zu suchen und festzuschreiben – ob das die Zeit von Brahms oder Schönberg oder die Gegenwart betrifft. Um es polemisch zu sagen: Ich finde es bemerkenswert, dass wir immer noch meinen, die Vielfalt der Kompositionen auf eine bestimmte Lesart verengen zu können. Das hat meines Erachtens noch nie gestimmt und ist nun wohl noch unmöglicher als jemals zuvor, auch weil wir heute international viel vernetzter sind und auch deshalb die stilistische Bandbreite des Repertoires um ein Vielfaches größer ist.

Kämper: Das Streichquartett gilt als Repräsentant bürgerlicher Musikkultur. Das hat bei vielen Komponist*innen den Impuls ausgelöst, sich dieser Gattung in Form von Verweigerung anzunähern.

Fels: Das ist der Grund, warum zum Beispiel Luigi Nono oder Karlheinz Stockhausen sich viele Jahre geweigert haben, über Streichquartett auch nur nachzudenken. Und das kommt auch heute noch vor. Betritt ein Streichquartett die Bühne, ist das manchen schon »Biedermeier« – unweigerlich, da können und müssen wir nichts tun. Jetzt kommt ein neuer Aspekt hinzu, der mich vor 20 Jahren noch weniger beschäftigt hat: der interkulturelle Aspekt. Streichquartette von Toshio Hosokawa, Younghi Pagh-Paan oder Elliot Carter sind wohl kaum als »Rebellion« gegen den deutschen Biedermeier zu verstehen.

Kämper: Wie sehr prägt dieser interkulturelle Aspekt das Repertoire des Arditti Quartets?

Fels: Wir werden manchmal nach unseren wichtigsten Stücken gefragt oder nach ästhetischen Vorlieben. Darauf können wir nicht eindeutig antworten, ist doch die Bandbreite an Möglichkeiten und Ausdrucksformen, die das Streichquartett bietet, riesig groß. Wenn wir als bereits historisch zu betrachtendes Quartett für etwas stehen, dann dafür, dass wir fast alles schon gespielt haben, dass wir durch die Welt gereist sind und Stücke von Komponist*innen aufgeführt haben, die wir von überall her nach Europa gebracht haben – und eben auch umgekehrt. Es gab eine Phase, in der die vier Mitglieder des Arditti Quartets aus vier verschiedenen Kontinenten kamen, heute sind es immerhin drei. Um es ohne Einschränkung zu formulieren: Wir haben immer gesagt, dass wir alles spielen können. Ich frage mich allerdings, auch in meiner Aufgabe als Hochschullehrender, ob das ein Modell ist, das für junge Quartette heute überhaupt noch geht. Also, kann ein junges europäisches Ensemble heute noch durch die Welt reisen mit der Überzeugung, jede Musik, egal woher sie kommt, adäquat interpretieren und auf die Bühne bringen zu können? Wie ich das beobachte, würden dies jüngere Streichquartette heute nicht für sich in Anspruch nehmen wollen. Wieweit wir als Arditti Quartet das konnten beziehungsweise im Kontext heutiger Debatten um »race, gender and class« noch können, ist eine andere Diskussion – eine, die wir führen. Für mich persönlich kann ich das deshalb trotz aller Skepsis so vertreten, ist der großartige interkulturelle Austausch, den wir als Streichquartett führen, doch schon mein ganzes Leben lang ein wichtiges, substantielles Element.

Kämper: Die besagte breite Palette an Möglichkeiten, für Streichquartett zu komponieren, artikuliert sich auch im Programm des musica viva-Konzerts am 29. September 2024 mit Werken von Helmut Lachenmann, Sarah Nemtsov und Wolfgang Rihm.

Fels: Die kritische Positionierung, vorhin erwähnt, wurde in den späten 1960er und den 1970er Jahren enorm wichtig. Hätten sich Ligeti, Kagel, Xenakis oder eben auch Lachenmann nicht so ernsthaft mit diesem Genre auseinandergesetzt, sich nicht so klar gegen das positioniert, was davor geschrieben worden war, gäbe es heute nicht dieses weit gefächerte und vor allem lebendige Repertoire.

Kämper: Was macht Helmut Lachenmanns Gran Torso zu einem Meilenstein der Streichquartett-Literatur?

Fels: Das Stück empfand oder verstand man damals als unglaubliche Provokation – und gleichzeitig als Befreiungsschlag aus tradierten Bindungen heraus. Lachenmann hat es einfach geschafft, mit dem Streichquartett auf eine unglaublich ernsthafte Art umzugehen. Er hat eine andere, eine ganze Klangwelt für die Instrumente entworfen, die aus meiner Sicht als Interpret genauso selbstverständlich zu produzieren ist, wie ein »schöner« Vibratoklang. Ich bin sicher, dass auch die Menschen, die dieses Stück damals gehasst haben, erkennen konnten, ja mussten, dass es sich um eine sehr aufrichtige und ernstzunehmende Position handelt. Lachenmann wollte ein Streichquartett schreiben, allerdings nicht auf parodistische oder gar zerstörerische Weise, wie das etwa von Mitgliedern der Fluxus-Bewegung gedacht war. Bei ihm ist das anders, er hat einen anderen, neuen, unerwarteten Blick auf das Streichquartett selbst geworfen. Damit hat er freilich Türen geöffnet.

Kämper: Und bei Rihm? Ganz anders fielen die Reaktionen auf Uraufführungen seiner Werke aus.

Fels: Auch Wolfgang Rihm fand mit seinem Streichquartett Nr. 5 einen eigenen Weg und rief damit Mitte der 1980er Jahre Stimmen hervor, die zwischen den Eckpunkten pendelten, ihn und seine Musik als Retter der Tradition oder Verweigerer des Neuen zu sehen. Treffende Worte für dieses Quartett, das den Beinamen »Ohne Titel« trägt, fand der Musiktheoretiker David Hier, der schreibt, dass Rihm in dieser halben Stunde eine neue Romantik bildet, aufbauend auf den zerfallenen Erinnerungen des Vorhandenen. Wie bei Lachenmann bestimmt auch hier unsere eigene Haltung zum Stück sehr stark die »Wirklichkeit« in der Interpretation und im Hören.

Kämper: Öffnet Sarah Nemtsov mit ihrem Streichquartett weitere Türen?

Fels: Sarah Nemtsovs Or bahir ist ein sehr heftiges, emotionales und engagiertes Stück. Insofern »passt« es klanglich sehr gut zu Gran Torso, ist gleichzeitig auch ein Kontrast zu dem älteren Stück, das dies vielleicht im Ausdruck, nicht jedoch in seiner Form ist.

Kämper: Nemtsovs Quartett ist dem Arditti Quartet zum 50-jährigen Jubiläum gewidmet. Es erweitert das Streichquartett um elektronische Verstärkung und Tonband. Sind Erweiterungen um Technik, im weitesten Sinn, und die Nutzung neuer Medien für Sie inzwischen selbstverständlich?

Fels: Die Frage erfordert zwei Antworten aus unterschiedlicher Perspektive. Um es flapsig aus der der Praktikabilität und des Marketings zu sagen: Der große Vorteil eines Streichquartetts, bezogen auf den organisatorischen Aufwand, ist der, dass man nur vier Stühle und vier Notenpulte benötigt, egal, an welchem Ort man auftritt. Die andere Antwort: Komponistinnen und Komponisten setzen sich verstärkt, schon in ihrer Ausbildung beginnend, mit neuen medialen Mitteln auseinander. Dem öffnen wir uns sehr gerne, für jede Art eines konzeptionellen Ansatzes, auch und gerade für jene, die wir zuvor noch nie realisiert haben. Die große Überschrift lautet Neugier, die beim Arditti Quartet – nach wie vor – immer da ist!

Konzerte mit dem Arditti Quartet

Helmut Lachenmann, Emmanuel Nunes © BR/LMN

räsonanz – Stifterkonzert I der Ernst von Siemens Musikstiftung

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música & Arditti Quartet mit Stefan Blunier

Werke von Emmanuel Nunes und Helmut Lachenmann

Samstag, 28. September 2024
20 Uhr, Prinzregententheater, München

Infos & Tickets

Lachenmann, Nemtsov, Feldman © BR/LMN

zum 50-jährigen Bestehen

Arditti Quartet

Werke von Sarah Nemtsov, Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm in memoriam

Sonntag, 29. September 2024
17 Uhr, Allerheiligenhofkirche, München

Infos & Tickets

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