Im musica viva-Konzert am 28. Juni richtet sich der Fokus auf den Komponisten, Dirigenten und Klarinettisten Jörg Widmann. Auf dem Programm steht auch sein Trompetenkonzert Towards Paradise [Labyrinth VI], das 2021 für den Solisten Håkan Hardenberger entstanden ist: die buchstäbliche Suche eines Einzelgängers nach Anschluss an die Gruppe. Im Gespräch mit Julian Kämper hat Jörg Widmann über die Idee des Labyrinthischen in seiner Musik gesprochen.
Kämper: Das Trompetenkonzert Towards Paradise ist Teil Ihrer Labyrinth-Reihe. Wie metaphorisch oder konkret ist dieser Irrgarten in Ihrer Komposition?
Widmann: Das Labyrinth ist eine schöne Lebensmetapher, die sich meines Erachtens nicht abgegriffen hat. Darüber könnte man stundenlang philosophieren. Deshalb ist zu diesem Thema inzwischen eine größere Werkreihe entstanden, Towards Paradise ist der sechste Teil. Unmittelbar davor, sogar teils parallel, habe ich die Nummer V komponiert, ein Stück nur für die nackte Frauenstimme, die kein Wort Text singt, aber effektiv weint, schreit und lacht wie ein Kind. Es handelt sich um eine Frau, die etwas sucht – wahrscheinlich sich selbst. Das ist eine extrem physische und szenische Idee, die in einer Embryo-Haltung endet, und man weiß nicht, ob darin der Tod oder eigentlich eine Geburt zu lesen sein soll. Im letzten Jahr habe ich für das Ensemble Modern die Nummer VII geschrieben, das bisher letzte Labyrinth: Tartaros, also der tiefste Abgrund der Unterwelt, ein Un-Ort. Diese beiden Stücke gehören für mich zusammen: Towards Paradise als ein utopischer, paradiesischer Ort, und in der für mich logischen Folge Tartaros als bruitistisch-schreiendes Ensemblestück. Wenngleich das Trompetenkonzert auf seinem Weg in paradiesische Sphären durchaus auch dunkelste Zonen durchstreift.
Kämper: Towards Paradise ist 2021 entstanden, also inmitten des pandemischen Ausnahmezustands. Inwiefern ist das der Musik eingeschrieben?
Widmann: Das, was uns Menschen ausmacht, nämlich dass wir miteinander kommunizieren, dass wir uns treffen, dass wir uns austauschen, dass wir uns nah sind – das alles war in dieser Zeit nicht möglich, ja sogar verpönt. Mir war beim Komponieren klar, dass der Trompeter, also ein Individuum, sich genau auf dieser Suche befindet, um Kontakte zu knüpfen. Er geht förmlich durch das ganze Orchester zu den verschiedenen Orchestergruppen. Von manchen wird er liebend in Empfang genommen, von der Trompetengruppe hingegen wird er im Schlussdrittel brüsk abgewiesen. Das habe ich richtiggehend auskomponiert: die drei Trompeter spielen die schlimmsten Klänge und vertreiben ihn. Das würde kein Ort sein, wird dem Solisten sofort klar, wo er bleiben könnte. Da ist jemand also auf der Suche. Und ob er in einem paradiesischen Zustand ankommt, ist auch nicht so sicher. Ich finde: ja. Aber das Erschütternde ist, dass er wieder in der Einsamkeit endet. Er hat allein begonnen und er endet wieder allein. Nach all diesen Begegnungen – wieder eine Lebensmetapher – sterben wir am Schluss allein. Aber ich will es mit der Narration nicht übertreiben, will nicht konkreter sein als das Stück. Die Corona-Krise war eine existenzielle Erfahrung für uns alle. Ich bin in dieser Zeit kompositorisch erst einmal verstummt, fast ein halbes Jahr. Ich kenne auch Komponisten und Kolleginnen, die in dieser Zeit extrem produktiv waren und zahlreiche neue Stücke geschrieben haben. Das finde ich genauso plausibel wie meine Reaktion, mit der Situation zunächst gar nichts anfangen zu können.
Kämper: Sie setzen das Thema des Labyrinthischen gut nachvollziehbar in direkten Bezug zur jüngsten Vergangenheit. Es könnte für mich ebenso gut eine Parabel auf die Gegenwart sein: Ich höre Menschen in meinem Umfeld sagen, dass sie schlicht »verwirrt« seien aufgrund der aktuellen Geschehnisse in der Welt – wie soll man sich positionieren, wie kann man handeln, wo liegt die Wahrheit?
Widmann: Das finde ich einen schönen Punkt. Es sind sich gerade in solchen verwirrten Zeiten wie unseren erschreckend viele Leute sehr sicher. Diese Leute bereiten mir viel mehr Sorgen als diejenigen, die zugeben, verwirrt zu sein. Also mir ist dieser Zustand sehr nah, denn es sind so viele Dinge, die aktuell auf uns einstürzen. Wenn ich das große Ganze einmal runterbrechen und auf diesen Konzertabend projizieren darf: Vielleicht sind sich die Besucherinnen und Besucher am Schluss gar nicht sicher, sondern möglicherweise haben sie mehr Fragen als davor – und ich fände das etwas Schönes. Etwa bei der Überlegung, ob wir bei dieser Musik im Paradies oder in entsetzlicher Traurigkeit enden. Womöglich beides? Genauso haben wir ein bisschen verlernt, Ambivalenzen auszuhalten. Dass etwas nicht schwarz oder weiß ist, sondern alles mehr als zwei Seiten hat, dass Dinge differenziert betrachtet sein wollen – all dem sollte man in diesen Tagen noch mehr Gehör verschaffen.
Kämper: Die Suche des Trompeters, die Sie schon geschildert hatten, wird auf der Bühne dargestellt. Wie szenisch haben Sie diese Musik verfasst, inwiefern wird der Solist zu einer dramatischen Figur?
Widmann: Dieses Stück ist für Håkan Hardenberger entstanden, ich habe es mit ihm entwickelt. Übrigens begann alles in einem Künstlerzimmer im Herkulessaal, wo ich von Håkan zum Beispiel erfuhr, dass der Grund, warum Miles Davis oft in dieser gebückten Haltung Richtung Boden gespielt hat, ein klanglicher ist. Das hat er mir demonstriert. Diese Aspekte spielen eine Rolle. Der Trompeter hat einen festgelegten Weg zu gehen: Er startet hinter der Bühne, geht zu den Orchestergruppen, wechselt seine Positionen auf der Bühne – deshalb hat er verschiedene Notenständer – und verschwindet auf der anderen Seite der Bühne wieder. Diese Bewegung ist im Vorfeld abgesteckt – aber es ist ein musikalischer Weg. Mir geht es dabei nicht um Äußerliches, das heißt wenn er nach unten spielt, dann hat es einen klanglichen Grund. Das Stück ist nicht voll von Effekten dieser Art. Håkan ist ein Musiker, der auf seiner Trompete unvergleichlich singt. Er ist wahrlich ein Sänger! Ich höre da nicht in erster Linie Håkan als Trompeter, was er zweifellos ist – und was für einer! –, sondern ich höre da jemanden von Herzen singen. Auch sein Vibrato ist etwas ganz Besonderes, und mit diesem Klang im Ohr habe ich dieses Stück geschrieben. Deshalb ist es vielleicht auch so gesanglich geworden, obwohl er auf dem Weg zum Paradies doch wirklich arg beschossen wird. In einer feindlichen Außenwelt muss er sich behaupten.
Das vollständige Interview erscheint im Programmheft zum musica viva-Konzert am 28. Juni 2024.
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Jörg Widmann
Werke von Jörg Widmann und Wolfgang Amadeus Mozart
Freitag, 28. Juni 2924, Herkulessaal der Münchner Residenz
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