Ensembles & Performer
Das Chamber Orchestra of Europe beim räsonanz - Stifterkonzert
Im Rahmen des diesjährigen räsonanz - Stifterkonzerts der Ernst von Siemens Musikstiftung spielt das Chamber Orchestra of Europe am 9.6.2018 mit Tabea Zimmermann und Pierre-Laurent Aimard unter der Leitung von David Robertson. Aus diesem Anlass werfen wir auf dem Blog einen Blick zurück auf die fast vierzigjährige Geschichte des Orchesters.
Das Chamber Orchestra of Europe
Ein Blick zurück auf eine fast vierzigjährige Geschichte
Der in Berlin lebende Musikpublizist Habakuk Traber kennt das Chamber Orchestra of Europe gleichsam seit dessen Gründung. Als das Orchester in den 80er Jahren seine Residenz im damaligen West-Berlin – und im oberitalienischen Ferrara – bezog, verfasste Traber die Programmhefttexte für die zahlreichen Konzerte, die das Chamber Orchestra of Europe in West-Berlin, später dann auch in der vereinten Stadt gab. Traber skizziert den Weg von damals bis ins Heute, da die Administration des Orchesters, das weltweit auf den großen Konzertbühnen des internationalen Musiklebens gastiert, ihren Sitz in London hat. Der Kern des Orchesters besteht aus rund 60 Musikernnen und Musikern verschiedener europäischer Nationen, die zu den gemeinsamen Projekten, zu den Proben- und Tourneephasen jeweils zusammenkommen.
Der Gründungsboom der Spezialensembles war abgeklungen, als sich das Chamber Orchestra of Europe (COE) 1981 in die internationale Konzertszene einzumischen begann. Man hatte sich nicht zusammengetan, um die Musik einer bestimmten Stilrichtung besonders authentisch zu präsentieren. Der Anlass, dieses Orchester ins Leben zu rufen, war viel pragmatischer. 35 junge Musiker hatten eine Altersgrenze erreicht: 23 Jahre. Deshalb konnten sie nicht mehr im European Community Youth Orchestra (ECYO) spielen. Sie wollten aber weiterhin gemeinsam Musik machen und sich nicht gleich in die Vereinzelung begeben oder auf die bestehenden Berufsorchester verteilen. Sie sprachen mit Claudio Abbado, dem Initiator und Künstlerischen Leiter des ECYO, er übernahm die Mentorschaft für das neue Ensemble; sie fanden Enthusiasten, die das Management leisteten, und sie einigten sich auf eine Arbeitsweise, die in keinem etablierten Berufsorchester möglich gewesen wäre: Die Proben- und Konzertphasen des Ensembles sollten eine Jahreshälfte umfassen, die andere sollte für eigene solistische und kammermusikalische Aktivitäten zur Verfügung stehen.
Ensemble und Dirigent
Das Chamber Orchestra of Europe war daher von Beginn an ein Ensemble von Solisten und versierten Kammermusiker*innen, die gewohnt waren, sich in verschiedenen Formationen zusammenzutun. Konzertante Solopartien konnten sie, wenn sie wollten, aus dem Orchester heraus besetzen (Tasteninstrumente ausgenommen), sie konnten sich aber auch für die Zusammenarbeit mit renommierten Solisten entscheiden. Beide Wege ging das COE. Ähnliches galt für die Position des Dirigenten. Sie konnten, wie viele Gruppen der historisch informierten Aufführungspraxis, mit einer Leitung vom Konzertmeisterpult oder durch Solisten spielen; sie konnten ebensogut unter inspirierenden Dirigenten arbeiten. Unter ihnen wurde nach Claudio Abbado vor allem Nikolaus Harnoncourt einer der wichtigen. Mit ihm entstanden bisher wohl die meisten Einspielungen des Ensembles. Aus den Reihen des COE gingen im Lauf der Jahre auch Dirigenten hervor: Thierry Fischer, der als Flötist im COE begann, und Douglas Boyd, 1981 bis 2002 Solooboist des COE, sind nur zwei von ihnen, Fischer mit einer ausgeprägten Neigung zur neuen Musik.
Gründerzeit – Ferrara und Berlin
Die Gründergeneration des COE war wohl die erste, die in ihrem Hochschulstudium nicht mehr unter Ausschluss historisch informierter Aufführungspraxis und avancierter Spieltechniken der Moderne ausgebildet wurde. Sie lernten und praktizierten beides als selbstverständlichen Teil ihres Künstlertums. Das Repertoire, das vom COE in sorgfältig durchkomponierten Programmen vorgestellt wurde, schlug von Anfang an einen weiten historischen und stilistischen Bogen, der von den Concerti und Sonaten eines Vivaldi und Zelenka bis zu jungen Komponisten der Gegenwart reicht. Scherzhaft wurde einmal bemerkt, das COE sei ein Spezialensemble, dessen Spezialität darin bestehe, dass es kein Spezialensemble sei. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren hielt das Orchester seine Arbeitsphasen an Residenzorten ab. Dort wurde geprobt, dort gab man Konzerte, von dort schwärmte man zu den europaweiten Tourneen aus. Ferrara gehörte dazu und für etliche Jahre auch Berlin. Beide Standorte vermittelte Claudio Abbado, der auch vor seiner offiziellen Ernennung zum Karajan-Nachfolger gute Kontakte nach Berlin hatte. Dem Orchester wurden Probenräume zur Verfügung gestellt. Insbesondere in Berlin legte das COE über mehrere Jahre eine eigene Konzertreihe auf. Dass diese im Zuge der neuen Selbstfindung als Hauptstadt des vereinten Deutschland aufgegeben wurde, empfand man nicht nur im Westen der einst geteilten Stadt als bedauerlichen und empfindlichen Verlust. Man vermisste die ansteckende Musizierweise des COE, aber auch ein Repertoire, Programmkonzeptionen und eine Interpretationskultur, die andere nicht ersetzen konnten.

Programmarbeit
Abbado konfrontierte in seinen Konzerten Mozart mit der Moderne, und er nutzte dabei die Möglichkeit, dass er mit sehr unterschiedlichen Besetzungen von der kammermusikalischen Kleingruppe bis zum gesamten Orchester arbeiten konnte. Sein Engagement für die Jugend, dem sich auch die Gründung des ECYO und des Gustav Mahler Jugendorchesters verdankten, unterstrich er, indem er sein Rossini-Programm (dessen Aufnahme zahlreiche Auszeichnungen erhielt) für ein Kinderkonzert mit Zwischenerzählungen versah und mit Prokofjews Peter und der Wolf kombinierte. Roger Norrington, damals noch nicht zum Sir geadelt, präsentierte Haydns Schöpfung gemeinsam mit dem RIAS Kammerchor in eigenwilligsuggestiver Zeichengebung von ungebremstem Temperament; sie blieb lange als beispielhaft im Gespräch.
In Bachs Brandenburgischen Konzerten kamen die Vorzüge eines kammermusikalisch geübten Orchesters mit eigenen Solisten zum Tragen, man gewann den Eindruck vom Konzertieren als intensivierter Kammermusik. András Schiff leitete Bachs Klavier- konzerte vom Soloinstrument aus; Authentizität erreichte er bewusst nicht durch Originalklang, sondern über die Sprachlichkeit der Musik. Heinz Holliger beleuchtete das enigmatische Kammerkonzert von Alban Berg durch eine vorgeschaltete Einführung, die er gemeinsam mit dem Orchester gestaltete, ehe er das Werk dirigierte. Er verdeutlichte das Ineinanderspielen von Expressivität und Konstruktion, von Symbol und Form, von innerer Struktur und Höreindruck, von geistigem und emotionalem Prozess. Sándor Végh brachte seine Erfahrungen als Geiger und Ensembleleiter in Programme ein, die aus der Spannung zwischen Wiener Klassik und der Musik und Béla Bartók konzipiert waren. Rudolf Barschai stellte die Kammersymphonien vor, die er nach Streichquartetten von Schostakowitsch in Absprache mit dem Komponisten arrangiert hatte, und stellte sie in beziehungsvolle Konstellationen zu Werken, die dem Komponisten viel bedeuteten.
Das COE engagierte sich für Porträtkonzerte von Komponisten wie Sofia Gubaidulina, György Kurtág, Arvo Pärt (seinerzeit noch ein Geheimtipp) und Alfred Schnittke. Gidon Kremer bewirkte als Solist und Inspirator in dieser Hinsicht viel. Im Rahmen der Musik-Biennale Berlin, dem Festival für neue Musik, das aus dem DDR-Erbe in die vereinte Kulturszene übernommen wurde, gestaltete es regelmäßig ein Konzert auch mit Uraufführungen. Nikolaus Harnoncourt, dessen Beethoven-Einspielungen starke Resonanz fanden, stellte hier seine Schumann- und Brahmseinsichten zur Diskussion. Die Beispiele ließen sich vermehren. Sie dokumentieren den hohen Anspruch, den das Orchester in den Jahren des ersten Elans exponierte, und an dem es sich in der Folgezeit immer maß.
»freie« Existenz
Das COE besteht nunmehr seit 37 Jahren. In dieser Zeit musste es manche Hürden nehmen. Sie hingen zum Teil mit der materiellen Basis der Arbeit zusammen. Das Ensemble arbeitet nicht mit einer festen Trägerschaft. Die notwendigen Geldmittel müssen durch Konzerteinnahmen und Tonträgerproduktionen eingespielt, bei privaten Mäzenen oder Stiftungen eingeworben und bei Förderinstitutionen immer wieder neu beantragt werden. Dazu braucht man ein engagiertes und findiges Management; zum Glück verfügte das COE von Anfang an über solche leidenschaftlichen Kunstermöglicher. Auch der Prozess einer ständigen Regeneration, der bei Berufsorchestern mit Planstellen bisweilen Probleme aufwerfen kann, wurde vorbildlich bewältigt. Aus der altersmäßig homogenen Gruppe der Gründerjahre ist ein buntes Ensemble geworden, in dem sich Erfahrung und Elan auf glückliche Weise vereinen. Das COE ist eine Institution, es hat sich aber zugleich die Vitalität einer freien Gruppe bewahrt, die sich quasi für jedes Projekt neu gründet. Bernard Haitink, der mit dem COE oft zusammengearbeitet hat, meinte: »Das Orchester ist über 30 Jahre alt und natürlich gibt es viele neue und jüngere Mitglieder, aber sie haben immer noch denselben Enthusiasmus und die extrem hohe Professionalität, um die viele Orchester sie beneiden würden.« Heute verfügt das COE über einen Kern von 60 Mitgliedern, die daneben ihre Karrieren als Solisten, Hochschullehrer, Dozenten bei Meisterkursen, als Konzertmeister und Stimmführer in großen Berufsorchestern verfolgen.
2009 konnte man eine Akademie zur Förderung besonders talentierter Studenten gründen. Die Akademisten begleiten das Orchester auf seinen Konzertreisen und werden dort von den Stimmführern des Orchesters unterrichtet. Institutionell hat sich seit der Gründung vieles verändert. Geblieben aber ist der »Spirit« des Ensembles, den Semyon Bychkov einmal so beschrieb: »Das Chamber Orchestra of Europe symbolisiert die idealistische Vision einer lebenslangen Suche nach dem musikalischen Ausdruck. Sie speist sich zum einen aus außerordentlichem musikalischen Talent, und zum anderen aus menschlicher Qualität. Hier hat sich die Intimität der Kammermusik zur orchestralen Erfahrung ausgeweitet, in der sich Idealismus und intellektuelle Neugier gegenseitig befruchten. Die Atmosphäre besteht aus jugendlicher Intensität, Freude am gemeinsamen Musizieren und am Zusammensein und dem Fehlen jeglicher Routine.«

räsonanz – Stifterkonzert
Das Programm des Münchner räsonanz – Stifterkonzertes gehört zu den exponierten Projekten des COE in den letzten Jahren. Den Rahmen bilden zwei Werke von Elliott Carter, die gleichsam seine letzte Stilepoche einfassen. Das Zusammenfinden unabhängiger Prozesse thematisiert die Penthode für fünf Instrumentalquartette, und die Erkenntnis von inneren Verbindungen zwischen kurzen, selbständigen Episoden die Instances, eines der letzten Werke des großen amerikanischen Komponisten. Dazwischen stehen Enno Poppes Bratschenkonzert Filz und George Benjamins Inventions. Für alle diese Werke sind die Urtugenden der COE-Künstler gefordert: Solisten mit anregendem Teamgeist und energischer Fähigkeit zur Selbstbehauptung in einem zu sein, um mit der Unabhängigkeitserklärung zugleich eine Liebeserklärung an ihre Mitwelt abgeben zu können. Der Anspruch, den ein Programm stellt, ist das beste Kompliment an die Musiker, die es verwirklichen.
Diesen Text finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks, welche der Neuen Musikzeitung vom Mai 2018 beiliegt.
Weitere Informationen zum räsonanz – Stifterkonzert am 9. Juni 2018 finden Sie auf www.br-musica-viva.de.
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