die Künstlerwerkstatt des Duos Slaatto-Reinecke
„Als Interpreten müssen wir alles tun, den Tönen nicht im Wege zu stehen“
Gespräch von Pia Steigerwald mit Frank Reinecke anlässlich des musica viva Late Night-Konzerts am 16.12.2016 in der Münchner Bürgersaalkirche

Pia Steigerwald: Herr Reinecke, Sie spielen seit mehr als 30 Jahren im Duo mit Helge Slaatto. Wie kam es zu Ihrer Kollaboration?
Frank Reinecke: Wir haben uns 1981 beim Festival „Cantiere Internazionale d’Arte“ in Montepulciano kennengelernt, ein von Hans Werner Henze gegründetes großes Projekt mit internationaler Ausstrahlung, ich war damals noch Student. Es war kein kommerzielles Festival, sondern eine Art Kunstwerkstatt, die uns beide sehr geprägt hat. Die Künstler spielten ohne Honorar, wir waren bei Familien im mittelalterlichen Bergstädtchen untergebracht, mittags und abends gab es Pasta und Wein. Ich spielte damals im Orchester, das international besetzt war. Engländer, Schweizer, Italiener und ein paar Deutsche. Helge Slaatto kam aus Norwegen. Das ganze war unglaublich inspirierend und erweiterte den Horizont, den ich von der deutschen Musikhochschule her kannte, wo sich das doch alles ein bisschen akademisch anfühlte. In Montepulciano wurde zeitgenössische Musik gespielt, Namen, die ich noch nie gehört hatte wie Birtwistle oder Turnage. Henzes Grundidee war eine Begegnung mit Bürgern von Montepulciano zu ermöglichen, vor allem mit den Kindern. Ein Jahr bevor ich kam, hatte Henze seine Kinderoper Pollicino uraufgeführt, Helge Slaatto spielte den Violinpart.
Steigerwald: Offiziell gegründet haben Sie ihr Duo 1987. Eine ungewöhnliche Kombination von Violine und Kontrabass.
Reinecke: Wir hatten davor schon sehr viel Kammermusik zusammen gespielt, hauptsächlich als Streichquintett. 1987 haben wir dann unser erstes Duo gespielt. Eine Komposition von Hans Vogt. Und wir hätten nicht gedacht, dass das so gut funktioniert. Damals gab es keine zeitgenössische Literatur für diese Besetzung und wir beschlossen, weiterzumachen und Komponisten anzufragen. Das nahm dann über die vielen Jahre seinen Lauf. Aber nicht manisch. Es sind vielleicht 50 bis 60 Kompositionen, die wir bisher gespielt haben. Aus künstlerischer Notwendigkeit und Sympathie sind wir zusammengeblieben. Die Besetzung hatte uns durch ihre unglaublich archaische Schlüssigkeit überzeugt, auch wegen der schmetterlingshaften Kongruenz der Stimmung e-a-d-g gegen g-d-a-e. Wir haben immerhin sieben Oktaven zur Verfügung, wie ein Außenstimmensatz. So könnten wir beinahe das gesamte Barocksonaten-Repertoire spielen. Es fehlen manchmal ein paar Akkorde zwischendrin, oder eben nicht. Wenn wir La Follia von Corelli spielen, mit einer so ausgeschmückten, hochdefinierten Bassstimme, ist es eine reine Zweistimmigkeit, doch durch das Volumen des Kontrabasses und die Brillanz der Geige entsteht nie ein klangliches Loch in der Mitte, sondern eine spektrale Verbindung. Und mit „spektral“ komme ich zur Musik von Wolfgang von Schweinitz. Mit seiner großen Raga hat sich für uns doch ein bisschen die Welt verändert.
Steigerwald: Von Schweinitz nennt die Plainsound Studies auch Etüden.
Reinecke: Ja, ein sehr bescheidener, sachlicher Titel, der nicht irgendwelche musikalische Gedanken vorwegnehmen will, sondern den Kosmos entfaltet. Ich finde diese bescheidene Ausdrucksweise enorm erfrischend, der musikalische Gedanke entwickelt sich hier wirklich aus einen musikalischen Diskurs. Bei von Schweinitz ist das sehr ausgeprägt.
Steigerwald: Wie kam es dazu, das Sie ein Werk von Chris Newman spielen?
Reinecke: Das war eine Art Schneeballeffekt. Wir hatten von Schweinitz‘ Raga in Berlin an einem ganz exotischen Ort aufgeführt, bei „7hours arts & concerts“ im „HAUS 19“, dem ehemaligen Kuhstall der veterinärmedizinischen Fakultät der Humboldt Universität. Chris Newman war offenbar sehr angetan und sagte: „Ich schreibe euch ein Stück“. Das Stück war dann schon nach zwei Monaten fertig.
Als wir die Noten bekamen fielen wir aus allen Wolken, denn es hieß „Symphony No.10“. Wir hatten noch nie eine Sinfonie bekommen.
Steigerwald: Warum heißt das Stück „Symphony“?
Reinecke: Es ist ein Joke, es sind natürlich nur zwei Musiker auf der Bühne. Aber es beleuchtet auch Hintergründe. Newman sagte, es gebe eine enge Verbindung zur 5. Sinfonie von Beethoven, gab uns aber keinerlei Einblicke in sein Vorgehen. Aber wir sind uns sicher, er ging technisch vor. Wir haben es nicht entschlüsseln können, aber man spürt es. Diese Musik ist aber auch mit der Avantgarde aus Nordamerika verbunden, wenn man an Ives oder Christian Wolff denkt. Es gibt sicherlich auch eine Verbindung zu Cage, der Zufall spielt eine Rolle. Newman schreibt nicht die typische neue Musik, sondern einen völlig puren, klaren Satz aus ganz normalen Noten, jedoch ohne dynamische Angaben. Er schreibt nur Noten. Pausen notiert er nicht.
Steigerwald: Der dramaturgische Verlauf, die Gestaltung der Noten ist Ihnen überlassen?
Reinecke: Es ist ein freier Raum. Und dieser freie Raum ist im Prinzip die ganze Welt. Es ist sind nur die fünf Notenlinien da, die diese Welt strukturieren und dann kommen diese Noten hinein und sind wie unglaubliche kleine Ereignisse. Man fragt sich, wo kommen diese Noten her? Sie wollen aber hier sein und sind völlig real. Es gibt am Anfang und in der Mitte des Stückes je eine Metronomzahl, das sind aber die einzigen Spielanweisungen. Es gibt keine dynamischen Angaben, kein Mezzoforte, kein Piano, kein Crescendo, kein subito Piano, nichts von alledem. Die Noten sind auch nicht gruppiert, zum Beispiel mit Balken, sondern jede Note hat ihr eigenes „Fähnchen“. Nicht einmal die Pausen sind notiert.
Steigerwald: Sie hatten jetzt in Berlin eine intensive Probenphase zum Newman-Stück.
Reinecke: Wir sind schon eine ganze Weile damit beschäftigt, etwa zwei Jahre. Unsere Art zu arbeiten ist unendlich unökonomisch, langsam und sorgfältig. Wir sagten zu Newman, wir lernen zuerst dein Stück und wenn wir Land sehen, kümmern wir uns um eine Aufführung. Am Anfang hatten wir erst einmal eine ganze Woche damit zu tun, die grafische Schönheit des Notenmaterials zu „zerstören“, um diese Musik überhaupt spielbar zu machen. Das zentrale Problem dieses Stückes ist, dass der Komponist keine Interpretation möchte. Er möchte, dass wir das so einfach und so klar spielen, wie es nur irgendwie geht. Wenn wir das aber so machen, klingt es nicht gut. Denn wir sind, wie die Noten selbst, der Elastizität der Harmonik ausgesetzt. Das heisst, wir können nicht wie ein Orgelwerk einfach nur „egal“ auf den Tasten spielen, wir haben keine Tasten, wir müssen das „erhören“. Wir müssen eigentlich wie Sänger intonieren. Es ist sehr schwer. Und vielleicht kennen wir das Stück mittlerweile besser als der Komponist selber, einfach weil wir es so im Ohr haben.
Steigerwald: Inwieweit lässt der Komponist interpretatorische Freiheiten zu?
Reinecke: Das ist genau die Gradwanderung, die wir gehen. Wir versuchen einen Kompromiss zu finden. Newman sagt, wir sollen „nicht musikalisch spielen“. Aber was ist musikalisch spielen? Man kann das gar nicht definieren. Form und Textur bilden Musik, ganz einfach dadurch, dass sich einige Noten gegenseitig anziehen, andere einander reiben.
Steigerwald: Sind hier „fes“ und „e“ dasselbe?
Reinecke: Hier ja. Was die Intonation betrifft, ist dieses übrigens das einzige Stück des Konzertprogramms, das nach dem Prinzip der gleichstufig temperierten Stimmung funktioniert. Wir haben uns hier des Teufels Küche gespart, weil es kein tonales Zentrum gibt. Im Prinzip ist die Symphony No. 10 gebaut wie atonale Musik, ist aber alles andere als atonal. Es gibt dort poetische Idyllen, die wir nicht überspielen, wir können sie aber auch nicht richtig ausschöpfen, sondern deuten an. Ein wichtiges Element sind Tonrepetitionen. Das Prinzip der Repetition zieht sich durch das ganze Stück und dadurch entstehen Strukturen. Man könnte sagen, motivische Substanzverwandtschaften, aber nicht im Sinne von Motivik – bis auf ein markantes viertöniges Thema am Anfang, das vielleicht an Beethoven erinnert. Wir versuchen, hier nichts hineinzugeheimnissen.
Steigerwald: Man sollte auch nicht Beethoven nachjagen, sondern ein neues, offenes Erlebnis haben beim Hören dieser Musik.
Reinecke: Newman wollte etwas Neues daraus machen. Er wollte der Originalitätsfalle aus dem Weg gehen. Er sagt: „keine einzige Note ist von mir, alle von Beethoven.“ Wie er sie verarbeitet hat, ist ein Geheimnis. Vieles wirkt surreal, manches zufällig, anderes fast kindlich eigenwillig. Was es sicher hat, ist ein harmonisches Gesicht, das betörend schön ist. Es gibt auch Konsonanzen, man kann von manchen Momenten geradezu gerührt sein. Und dann zerrinnt alles wieder in ein absurdes Nichts. Es ist eine sehr zarte Reise nach Innen. Man darf hier nicht die Effekte einer Sinfonie erwarten, in der es oft extrem leise und laute Stellen gibt. Wir versuchen so zu spielen, wie die Klänge es wollen. Manche Klänge sind konsonant, sie wollen Größe bekommen, sich im Raum ausbreiten und es gibt andere Klänge, die klein sein wollen. Dieses „Wollen“ zu unterstellen ist sicherlich ein Risiko, aber als Interpreten müssen wir trotzdem alles tun, den Tönen nicht im Wege zu stehen – ohne dabei unsere eigenen Fingerabdrücke zu hinterlassen, sondern möglichst den Juwelierladen auszurauben, ohne Spuren zu hinterlassen. Was gar nicht geht.
Steigerwald: Sie möchten die Musik sprechen lassen.
Reinecke: Und wir sehen uns nicht als Experten, obwohl wir schon 30 Jahre neue Musik spielen. Wir spielen ebenso Schubert, Mahler und Bach, Josquin Desprez, Machaut und de Vitry. Wir verstehen uns als Musiker, die in einem kulturellen Orbit zu Hause sind.
Steigerwald: Wie verständigen Sie sich über die Interpretation? Streiten Sie sich manchmal über den richtigen Weg?
Reinecke: Wir streiten nie, wir diskutieren viel. Die Gespräche vor und nach den Proben sind genauso lang und intensiv wie die Proben selbst. Wir hören uns intensiv Probenmitschnitte an und hinterfragen unsere Interpretation, ob sie vielleicht zu subjektiv klingt. Newman hat Recht, man muss sich total zurückhalten und den Spannungsverhältnissen, die zwischen den Systemen entstehen, Raum geben. Da kann kein Stilgefühl oder stilistischer Willen dagegen an. Die Töne haben ihren eigenen Willen, zu dem wir uns irgendwie verhalten müssen.
Steigerwald: Wie kam es zu Ihrer Beschäftigung mit mittelalterlicher Musik?
Reinecke: Auch das war ein Schneeballeffekt. Es fing an mit einer Kontrapunktlehre von Diether de la Motte, der seine Theorie meist auf zweistimmigen Kanons von Desprez aufbaute, die uns sehr fasziniert haben. Das war ca. 1995, ist jetzt also 20 Jahre her. Damals sind wir aber noch an der Intonation gescheitert. Wir konnten sie buchstäblich nicht sauber spielen, diese einfachen Noten, da wir in jede sogenannte Komma-Falle hineintappten. Wir hatten auch noch nicht die Erfahrung. Wir wussten damals eigentlich gar nichts. Mit dem altgewohnten Pi mal Daumen der temperierten Stimmung jedenfalls funktionierte es überhaupt nicht. Nachdem wir dann die Raga von Schweinitz gespielt haben – nach zwei Jahren und 77 Proben, nicht gezählt das Üben – kannten wir uns in der Komplexität des Tonsystems ziemlich gut aus, und wir konnten Desprez und Machaut systematisch intonieren. Im Gegensatz zu Desprez verzichtet die zweihundert Jahre ältere Musik Machauts noch auf die reine Naturterz 4:5, denn sie kommt in dem damals noch gängigen Pythagoräischen System, das über reine Quinten gebaut ist, nicht vor. Versucht man es trotzdem, funktioniert es nicht. Später bei Desprez dagegen ist sie einkomponiert. Wir haben in den letzten Jahren viel Machaut gespielt und sind beeindruckt von dieser modernen, klaren, einfachen, strengen und zugleich unglaublich reichen Musik. Da ist keine Note zu viel.
Steigerwald: Sie haben die Werke von Machaut und Vitry adaptiert für Violine und Kontrabass „in Phytagorean 3-limit Just Intonation“. Das hört sich kompliziert an.
Reinecke: Es ist ganz einfach, weil es reine Natur ist. „Just Notation“ ist der Begriff für die reine Stimmung in der zeitgenössischen Musik. Rein gestimmte Intervalle heißt: Intervalle aus einfachen Naturtonverhältnissen. Einfach bedeutet: Anfang der Obertonreihe. Von den ersten drei Tönen wie bei Machaut, von den ersten fünf Tönen wie bei Desprez und der gesamten Vokalpolyphonie der Renaissance. Oder wie bei von Schweinitz‘ Raga geht es um die Intervalle, die zwischen den ersten 19 Obertönen gebildet werden können. Und das sind unendlich viel mehr als auf dem Klavier. „3-limit“ heißt, dass in der Obertonreihe nach drei Tönen Schluss ist. Die einzigen reinen Intervalle sind diejenigen, die aus den ersten drei Tönen der Naturtonreihe gebildet werden können. Das sind Prime, Oktave, Quinte, Quarte sowie ihre Multiplikationen. „Pythagoräisch“ heißt über Quinten entworfen, aber nicht über den Ton „C“ sondern über dem Zentralton „D“. Der Spezialfall ist die große Terz, die ziemlich schräg klingt, da sie in diesem System keinen richtigen Platz hat.
Steigerwald: Wie muss man sich diesen Prozess bei Ihrer Adaption für Violine und Kontrabass vorstellen?
Reinecke: Wir gehen eine Manipulation ein und ziehen viele der Sätze durch Oktav-Transposition auseinander. Manche spielen wir in originaler Nähe, manche ziehen wir ein, zwei oder manchmal sogar drei Oktaven auseinander. Dadurch haben wir einen höheren Konsonanzwert bei den Quinten, und Quarten werden dissonanter. Der Unterschied zwischen Quinten und Quarten macht das Ganze würzig. Es hat mehr Sex-Appeal, wie von Schweinitz sagen würde.
Steigerwald: Was würden die Spezialisten Alter Musik dazu sagen?
Reinecke: Wenn es so etwas wie eine Alte-Musik-Polizei geben würde, müssten wir Sorge haben, verhaftet zu werden. Wir gehen überhaupt nicht historisierend vor und versuchen nicht im Entferntesten eine Rekonstruktion. Wir wollen keine Zeitreise zu Machaut, sondern nehmen diese Chiffren genauso auf wie die unerklärlichen bei Newman. Da schließt sich in gewisser Weise wieder der Kreis, wenn uns sogar ein lebender Komponist nicht erklären kann, was gemeint ist. Wir nehmen die Töne so abstrakt wie sie sind und lassen ihr Wesen klingen. Im Falle von Newman im gleichstufig temperierten System, also mit 12 Halbtönen, bei Machaut und de Vitry im pythagoreischen.
Steigerwald: Das Konzert findet in der Bürgersaalkirche statt. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Raum gemacht?
Reinecke: Diese wunderbare Kirche ist selbst schon ein Musikinstrument. Die Musik, die Sounds, können sich erst hier richtig entfalten und blühen auf eine Art auf, dass sich ein fast dramatischer Synergieffekt ergibt. Es geht nicht um eine möglichst saubere Quinte, sondern darum, dass die beiden Instrumente nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Diese Verschmelzung ist gerade bei unseren Instrumenten mit ihrer Obertönigkeit und Spielweise ein starker Effekt und Ausdrucksmittel, was Machaut und de Vitry offenbar planmäßig einsetzten. Ihre Musik wurde für Kirchen geschrieben. Durch dieses Aufblühen eines Akkordes entsteht eine spektrale Synergie. Das heisst, es sind mehr als zwei Töne wahrnehmbar durch das Erscheinen von Differenz- bzw. Kombinationstönen, wie von Helmholtz physikalisch nachgewiesen. Auch Leopold Mozart erwähnte bereits die Differenztöne, obwohl damals noch mit falschen Beispielen belegt. Wir nehmen sie mit unserem Klangempfinden als wohltuend wahr. Sie geben sozusagen einen zusätzlichen Basston ab, den ich gar nicht spiele. In der Kirche können sich diese oft sehr tiefen Differenztöne sehr gut entfalten. Wenn ich zum Beispiel eine tiefe Quinte spiele wie Kontra A und Großes E, entsteht ein Differenzton, der eine Oktave unter dem Kontra A ist. Das ist eine Subkontrawelle, quasi schon Infraschall, ein Sinusklang, der sich erst in einem großen Raum entfalten und aufbauen kann. Seine Welle ist 14 Meter lang! Neben den Differenztönen gibt es dann noch Differenztöne der Differenztöne, und ein allerfeinstes Geäst aus Obertonschwebungen. Wir haben also in der Zweistimmigkeit ein multiples, großes Klangspektrum. So bekommt jeder einzelne Klang ein spezielles eigenes Gesicht. Marc Sabat, ein wichtiger Komponist der Just Intonation nennt das eine Signifikanz. Und diese führt dazu, dass die Kategorien Klangfarbe und Harmonie ineinander übergehen. Es gibt keine getrennten Größenordnungen mehr. Wir spielen sozusagen Klangfarbenmelodien.
Steigerwald: Unter welchen Kriterien haben sie die Konzertstücke ausgewählt?
Reinecke: Das war Gefühlssache. Wir haben keine inhaltliche Dramaturgie und kümmern uns weniger um die Texte. Bei Machaut sind es alles Liebeslieder, manche tragisch, manche huldigend. Das Altfranzösische ist schwer zu verstehen, wir haben einige Texte übersetzen lassen und dabei festgestellt, dass das dichterische Element nicht unbedingt an die Musik heranreicht. Die Musik zeigt sich als völlig autonom und braucht den Text nicht. Wir beginnen mit Werken, die den Klang erst einmal erklären und nicht zu komplex sind. Unsere Gewohnheiten spielen natürlich auch eine gewisse Rolle. Es bauen sich Sphären auf, manche Stücke stören, manche mögen einander, und so hat sich eine Dramaturgie herausgebildet. Nach den ersten etwas konventionelleren werden die Kontraste größer. Dazwischen liegt das Rondeau Nr. 2, das eigentlich Jazz ist durch völlig verrückte Synkopen. Das Ende wird tragisch mit der Ballade Nr. 5, die wir in ein tiefes Timbre gesetzt haben. Das ist einer der Sätze mit den ungewöhnlichsten Abwechslungen von Konsonanz und Dissonanz. Wir haben die Noten nach Anziehung und Abstoßung gegliedert. Und daraus entsteht wie von selbst die natürlichste Artikulation und Phrasierung. Die Stücke spielen sich quasi von selbst. Wir tun nichts hinein, was nicht darin liegt. Wir wollten die energetisch reichste Fassung.
Steigerwald: Sie möchten das Publikum zu einem „verfeinerten Hören“ anregen. Was macht dieses Konzert mit dem Hörer?
Reinecke: Es gibt dem Hörer vielleicht einen Geschmack davon, was überhaupt eine Konsonanz, was eine Verschmelzung, eine Harmonie ist. Wenn man sich aber bei Machaut in das Melodische einhört und weiß, dass es einen Halbton gibt, der um 10 Cent kleiner ist, als derjenige auf dem Klavier, und dass es einen großen Ganzton gibt, dann wird es spannend. Zwei Halbtöne machen hier also noch keinen Ganzen. So entsteht ein ganz bestimmtes Timbre.
Man kann vielleicht hören, dass das Timbre, in dem wir Machaut und Vitry spielen anders ist, als wir es gewohnt sind. Und dass es auch ganz anders ist, als in der Barock- oder Renaissancemusik. Wenn wir es etwa mitteltönig temperiert spielen würden, wäre alles unsauber und matt. Wir suchen die Spannung zwischen konsonanter Verschmelzung und dissonanter Individualisierung der Töne. Und dieses Gefühl, dass man ein multiples Gebilde in ganz viele Richtungen bilden kann, hat natürlich auch mit dem Kontrapunkt zu tun: Nicht nur Note gegen Note, sondern Melos gegen Harmonie, oder wie auch in der seriellen Musik, Parameter gegen Parameter. Wir versuchen mit unserer Spielweise genau Machauts Balancepunkte zu finden. Manche Sätze werden dadurch sehr schnell und manche sehr langsam. Die Feinheit des Hörens soll ein Hören dessen sein, was zwischen zwei Klängen passiert. Das hat wiederum damit zu tun, weshalb wir ein Intervall als schön empfinden. Eine große Frage, die mit den Obertönen zusammenhängt. Und aus dieser Schönheit der Klänge, einer reinen Naturschönheit, ist ein hochartifizielles System entstanden, was dann wieder zerstört wurde mit der gleichstufigen Stimmung.
Die Mitteltönigkeit und die anderen Temperierungen haben die Quinte geopfert, was dadurch kompensiert wurde, dass alles immer figurativer wurde und zu einem Aktionismus des Hauptsatzes führte. So wurde die Barockmusik mehr und mehr eine motorische Angelegenheit. Wir verfallen aber nicht diesem kompensatorischen Aktionismus, sondern gehen in die Harmonie zurück.
Steigerwald: Sie revitalisieren sie.
Reinecke: Wir wollen damit auch Vorurteile gegenüber mittelalterlicher Musik abbauen. Es wurde behauptet, die Terz, die Quarte sei eine Dissonanz. Eine mögliche Antwort kann man bei uns hören.
Weitere Informationen zum Konzert finden Sie auf www.br-musica-viva.de.