Komponisten & Werke

„… EINE GEWISSE ZARTHEIT“ – Ein neuer Liederzyklus von Walter Zimmermann

02.09.17 | Walter-Wolfgang Sparrer

Walter-Wolfgang Sparrer im Gespräch mit dem Komponisten Walter Zimmermann über dessen Liederzyklus auf Gedichte von Michail Lermontov und Ossip Mandelstam, der am 30. September bei der musica viva in der Allerheiligen-Hofkirche zur Uraufführung kommt.

Foto: Komponist Walter Zimmermann (Foto: privat).

Walter-Wolfgang Sparrer: Deine zwölf Lieder plus Epilog – zusammen 13 – erhielten den Gesamttitel „vergebens sind die Töne“, doch handelt es sich genau genommen um zwei Zyklen für Bariton und Klavier: fünf Lermontov-Lieder aus dem Jahre 2015 und sieben Mandelstam-Lieder von 2016.

Walter Zimmermann: Ein Motto für den gesamten Zyklus bildet für mich dieses Zitat von Pier Paolo Pasolini aus dessen Essay über Mandelstam: „Leichtfüßig, klug, geistreich, elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig, und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts gegeben.“

Wegen eines kritischen Gedichts auf Stalin („Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr“) kam Mandelstam mit seiner Frau Nadeschda nach Woronesch ins Exil, dann nach Sibirien; er starb in einem Übergangslager. Wenn man die Essays und Gedichte liest, die er dort geschrieben hat, dann ist es unbegreiflich: Er hat über Dante und die italienische Renaissance eine leichtfüßige, helle Literatur geschrieben – in einem Gulag. Das Leid angesichts des Todes hat er ignoriert und blieb unerschütterlich. Stoisch hat er innerhalb der Gefährdung seine Kunst der Leichtfüßigkeit behalten und machte das, was er wollte. Das hat mich sehr beeindruckt.

Sparrer: Wie bist Du auf Ossip Mandelstam gekommen?

Zimmermann: Ich hatte einen spiritus rector bei dem ganzen Projekt, das ist der Schriftsteller und Slawist Felix Philipp Ingold, der sowohl Lermontov als auch Mandelstam übersetzt hat. Bei Mandelstam habe ich eine Nähe gefühlt zu der Leichtigkeit, die in meinen Stücken ja auch vorhanden ist. Ich habe keine Übersetzungen verwendet, die frei und prosaisch sind, sondern möglichst solche, die die originale Prosodie und den ursprünglichen Rhythmus der Verse beibehalten. Letztere fand ich poetischer und sie erlaubten mir auch, nachdem ich die Lieder zuerst deutsch vertont hatte, die Originalsprache als Alternativfassung einzuarbeiten. Ich habe Übersetzungen verwendet von Ingold, die ich ganz beseelt finde, aber auch von Ralph Dutli und von Paul Celan, der eines der von mir ausgewählten Gedichte ins Deutsche übertragen hat. Bei der russischen Fassung und der Erarbeitung einer Lautschrift hat mir dann Anton Safronov geholfen.

Sparrer: Und wie kamst Du zu Michail Lermontov?

Zimmermann: Den Mandelstam-Liedern voraus gingen im Jahr zuvor die Lermontov-Lieder. Lermontov, der im 19. Jahrhundert ebenfalls wiederholt verbannt wurde – er war im Kaukasus–, hatte eine ähnlich aufrechte Haltung wie Mandelstam. Seine Kritik am Zarismus und an der Leibeigenschaft wurde dadurch nicht gebrochen, im Gegenteil …

An dem Tag, als ich anfing, den „Stern“, das erste Lied, zu komponieren habe ich aus dem Internet den Verlauf des Tages über 24 Stunden aufgezeichnet und die Sternenkarte auf Notenpapier durchgepaust; wir kennen das von Cage. Wir lesen die Sternkarte von rechts nach links: Die roten Punkte sind Fixsterne, daraus wurde die Singstimme. Aus den anderen Verbindungen wurde der Klavierpart – aber nicht so, wie es hier steht, sondern ich habe das rhythmisiert. Auch sind die Tonhöhen ja graphisch nur ungefähr justiert, die habe ich harmonisch leicht verschoben, so dass es einen sinnlichen Zusammenhalt gibt. Es gibt ein Manuskript, wo Singstimme und Klavierstimme übereinander sind; dann habe ich sie auseinandergezogen – und zwar so, dass das ganze Gedicht als ein Monolog des Sängers vorgetragen wird, dem der Klavierpart dann sternenklar als gleichsam eigenständiges Stück, als Sternenhimmel ohne Gesang, folgt.

Ossip Mandelstam (links, Fotograf unbekannt). Mikhail Lermontov (Ausschnitt aus einem Gemälde von Petr Zabolotskiy).
Ossip Mandelstam (links, Fotograf unbekannt). Mikhail Lermontov (Ausschnitt aus einem Gemälde von Petr Zabolotskiy).

Sparrer: Also blieb es bei Klavierliedern. Wie ist Dein Verhältnis zur Gattung?

Zimmermann: Mit dem Lied habe ich immer gehadert – diese historisch stark aufgeladene Form und auch die Trennung der Ausführenden: Da steht ein Sänger in der Kuhle eines Flügels, dort sitzt der Liedbegleiter. Das schien mir immer zu pathetisch, deshalb habe ich früher oft Instrumentalisten singen lassen … Es war meine Maxime, dass die Lieder alle eine gewisse Zartheit haben, die meine Welt, aus der ich nun einmal komme, nicht verraten.

Es fängt mit einem schwierigen Vokalsolo an; es sollte nicht zu laut sein. Das Ohr adaptiert sich: Wenn man leise singt, geht der Hörer hin zur Musik und nicht umgekehrt. Die fünf Lermontov-Lieder heißen Stern – leicht – Schatten – verbannt – überAll. Das sind Titel, die irgendwie einen Charakter bezeichnen …

Sparrer: …  auch Stadien eines sich entwickelnden oder zumindest zusammenhängenden Prozesses …

Zimmermann: Ja, so gibt es auch gewisse Brücken und Übergänge zwischen den Liedern. Hinter dem Titel des zweiten Lieds leicht steht übrigens das berühmte Gedicht Gebet – „Molitva“. Es wurde oft vertont, unter anderem von Glinka. Ich habe es vermieden, diese Vertonungen zu hören und versuchte Nischen zu finden, die innerhalb der Gattung Klavierlied noch nicht abgegrast sind. Ich konnte dieser Welt nur begegnen durch eine Strenge, in der ich den Tonsatz auslege.

Sparrer: Hast Du von Anfang an einen Zyklus gedacht?

Zimmermann: Es fing an, dass Axel Bauni mich angefragt hat für seine „LiederWerkstatt“ in Bad Kissingen; er stand plötzlich in der Tür meines Hauses in der Uckermark und fragte, ob ich nicht mal Lieder komponieren wolle. Es ging schon um mehrere Lieder, aber dass es so viele werden würden, wusste ich damals noch nicht. Die Kissinger LiederWerkstatt 2015 stand unter dem Motto: Vertonung russischer Dichter. Ich griff es gerne auf, da ich in der Uckermark in der Nähe der ehemaligen russischen Garnisonsstadt Vogelsang lebe, die, tief im Wald versteckt, langsam zerfällt. Nanne Meyers Fotos aus Vogelsang pointieren Lermontovs und Mandelstams Auseinandersetzung mit Obrigkeit.

Lermontov-Zyklus

Sparrer: Mit Tempo 40 ist dieses zweite Lied auf das Gedicht „Molitva“ extrem langsam …

Zimmermann: Dem liegt zugrunde ein asymmetrischer Kanon, der aber nicht nachvollziehbar ist. Wenn man die Tonhöhen im gleichen Iktus spielen würde, wären sie identisch, aber da jeder Ton eine andere Dauer hat, ist es wie bei zwei Schnecken, die sich gegenseitig überholen. Die Singstimme bildet eine dritte Stimme – es ist so eine Art dreistimmiger virtueller Kanon. Es verschwinden Töne in den Pausen, auch deshalb ist der Kanon nur virtuell. Es gibt Reperkussionen von Tönen, Antworten oder Echos; einzelne Töne kommen später wieder, fangen sie auf; auch dadurch entsteht Zusammenhalt.

Das dritte Lied „Schatten“ – wird fast geflüstert gesungen; der Bariton singt eine diatonische Melodie, die unerbittlich gestört wird durch diese querständigen Glocken-Flageoletts im Klavier. Die Schatten verzerren das diatonische Gebilde: einerseits einfach, andererseits fies, weil keine Stütze im Klavier entsteht.

Sparrer: Was ist für Dich ‚Schatten‘?

Zimmermann: Schatten nenne ich den Versuch, das Objekt noch einmal durch eine andere Perspektive zu erfassen oder auch zu verzerren. Diese Stücke haben auch was Kindhaftes; sie versuchen, den ersten Gedanken zu ergreifen – also keine Psychoanalytik!

Das vierte Lied „Verbannt“ basiert auf dem Gedicht „Wolken – Tútschi“, das Lermontov am Vorabend der Reise in die kaukasische Verbannung geschrieben haben soll. Für dieses Lied habe ich etwas georgische Musik studiert, da gibt es zum Beispiel diese sich überschlagenden Jodler – von der Kopf- in die Bruststimme, Krimantschuli heißen die.

Sparrer: Das fünfte Lied bringt dann die kosmische Entgrenzung …

Zimmermann: Nicht unbedingt, aber es ist ein kosmisches Lied, „mein Haus steht überall“, gehört also zum All. Hier wollte ich das Lied, die Gattung, umkehren. Es ist ein Klavierepos, in das der Sänger Töne einstreut – ein Kosmos, der wie eine pythagoräische Weltmaschine abläuft. Den Schluss bildet dann ein Vers aus einem andern Gedicht „doch, ach vergebens sind die Töne“, weil niemand jemals es zu Ende singt. Das ist auch der Gesamttitel beider Zyklen. Der Sänger hält das auseinander fliegende Weltgebäude zusammen. Der zweite Zyklus auf Mandelstam ist ein Jahr später …

 

Mandelstam-Zyklus

Sparrer: … streng genommen hundert Jahre später. Sieben Lieder: „Gewebe – Wespe – Glas – Wabe – Emaille – Klang – Segel“ … Du thematisierst sozusagen kaum die leidvollen, auch politischen Aspekte usw., sondern eher Strukturen?

Zimmermann: Streng konstruktiv, um alles zu vermeiden, was in die Richtung eines romantischen Gehabes geht. Aber die „Wespe“ ist zum Beispiel ein Lied gegen Stalin, die Wespe steht für Stalin. Vielleicht kann ich die Strukturen etwas erläutern an dem ersten Mandelstam-Lied, „Gewebe“. Das siebte Lied „Segel“ ist eine Variante dieses Gedichts; beide zusammen bilden eine Art Klammer, wobei im siebten Lied das Motiv der Wiege wichtig ist. Beide Gedichte sind Mandelstams Gedichtzyklus „Oktaven“ von 1933/35 entnommen – die ersten vier Zeilen sind identisch, der zweite Vierzeiler bildet eine Variante. Es gibt von Mandelstam übrigens einen ganz wunderbaren Essay über Gewebe, Netze, Flechtwerke, auch Teppiche.

Wenn nach verzögerten Atemzügen endlich der Seufzer sich löst: Man muss wissen, dass Mandelstam Asthmatiker war. Bewusst habe ich versucht, da nichts Asthmatisches hereinzubringen, sondern genau im Gegenteil undramatisch zu bleiben, die Sehnsucht nach Befreiung von asthmatischem Druck, das freie Atmen darzustellen durch Schlichtheit. Dazu habe ich eine strenge Zweistimmigkeit gewählt – es gibt nur die linke Hand im Klavier und die Singstimme – und die behandle ich wie Schachfiguren: als Springer einmal schräg, zweimal gerade und als Läufer diagonal. Wie so viele Russen war Mandelstam sicher ein guter Schachspieler.

Die Sprache soll nicht eingezwängt werden in einen Rhythmus, sondern darf sich aussprechen. Das ist das Prinzip des ganzen Stücks: Dass die existenzielle Not in einem „noli me tangere“-Klaviersatz nicht-expressiv auftritt. Ich versuche immer, eine Konstruktion zu finden, die ich dann verlasse und zu der ich wieder zurückfinde: Sehnsucht nach Strenge in einer Welt, in der Leute meinen, sie könnten den Begriff der Freiheit so verstehen wie sie mögen.

Freiheit entsteht nur durch große Disziplin, das hat Cage bereits gesagt. Meine Motive: das Gewebe, die Zeichnung auf dem Glas, die Bienenwabe als Schutz und zugleich Anlass für Trunkenheit, ein Muster auf dem Teller – Emaille ist das Porzellan der einfachen Menschen; die Schönheit, das Zarte vergisst Asthma und Tod.

Dieses Interview finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks, welche der Neuen Musikzeitung von September 2017 beiliegt.

Weitere Informationen zum Liederabend am 30.9.2017 im Rahmen des musica viva Wochenendes vom 28.-30. September 2017 finden Sie auf www.br-musica-viva.de.


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