Komponisten & Werke

EINE KURZE GESCHICHTE DES REQUIEMS

15.03.17 | Jan Brachmann

Wolfgang Rihms „Requiem-Strophen“ stehen in einer langen Tradition der Totenmessen. Am 30. März 2017 werden sie im Rahmen des musica viva Konzerts mit Mariss Jansons uraufgeführt und am 31. März 2017 wiederholt. Jan Brachmann schildert die Geschichte dieser Musikgattung.

Das Requiem ist auf den Hund gekommen. „Nuschki ist tot”, schreibt Daniel Kehlmann am 9. März 2008 an Sebastian Kleinschmidt. Nuschki war der Hund des Schriftstellers, „ein außergewöhnlicher Hund”. Und Kleinschmidt, Herausgeber der Zeitschrift „Sinn und Form“, kondoliert neun Tage später: „Wie es im Himmelreich mit den Tieren bestellt ist, weiß ja keiner. Immerhin müssen sie nicht vorm Jüngsten Gericht erscheinen”. Die Unterhaltung, die sich zwischen beiden entspinnt, ist zum Buch geworden. Es trägt den Titel „Requiem für einen Hund“, eine Causerie gescheiter Köpfe, imprägniert mit Skepsis und Ironie.

 

Gewiss, wie es im Himmelreich mit den Tieren bestellt ist, weiß keiner. Aber es steht geschrieben beim Apostel Paulus, dass alle Kreatur sich ängstet und mit uns nach Erlösung sehnt. Also auch Hund und Katze, Wal und Maus. „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh”, schreibt der Prediger Salomo; Johannes Brahms hat es vertont. Daher geht es dem Vieh auch wie dem Menschen. Und nicht nur dem Vieh. „Alles Fleisch ist wie Gras”, lesen wir beim Propheten Jesaja. Wolfgang Rihm eröffnet die „Requiem-Strophen“ mit diesem Initial. Auch dieser Vergleich ist umkehrbar und schneidet den „Gemüseheiligen” den Fluchtweg aus dem Schuldzusammenhang des Lebens ab. Das ängstliche Harren der Kreatur umfasst die ganze Schöpfung. Sie stöhnt – vor allem unter den Zumutungen des Menschen.

Seit gut tausend Jahren werden in Europa Totenmessen abgehalten. Die katholische Kirche hat mehr als fünfhundert Jahre gebraucht, deren Form zu vereinheitlichen. Das Missale von Papst Pius V. legte im Jahr 1570 die langhin gültige Abfolge fest: Am Anfang steht der Introitus, der dem Amt den Namen gab: „Requiem aeternam dona eis”, dann folgen Kyrie, Graduale, Tractus, Sequenz, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und Communio. Vor diesem Missale waren bis zu 105 verschiedene Messtexte für das Totenamt in Gebrauch. Die Sequenz des „Dies irae”, die sich viele Reime auf die Schrecken des Jüngsten Tages macht, angeblich durch Thomas von Celano im 13. Jahrhundert verfasst, hatte vor 1570 kaum Liebhaber. Später wurde sie zum Inbegriff des Requiems. Das Zweite Vaticanum nahm sie nach 1965 wieder aus dem offiziellen Gebrauch: Nicht Angst sollte ein Totenamt verbreiten, sondern den Erlösungsgedanken betonen.

Ein Requiem war ursprünglich dazu da, die Gewissheit der Auferstehung zu vermitteln und die Schrecken der endzeitlichen Visionen in der Apokalypse des Johannes zu überwinden. Gläubige können mit Jesu Beistand den Tod besiegen. Lebende helfen den Toten durch Fürbitten, die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Ein Requiem ist eine Liebesdienstleistung der Lebenden an den Toten, ein gutes Werk, das bei Gott etwas bewirken soll. Es kann am Todes- oder Begräbnistag, am dritten, siebten, dreißigsten oder hundertsten Tag nach dem Tod, am Tage Allerseelen (2. November) sowie an den Jahrestagen des Todes abgehalten werden. Letzteres traf besonders für hohe Adlige oder ehemals regierende Fürsten zu. So entstanden die Requiemvertonungen von Johann Adolf Hasse für den kursächsischen Hof oder Mozarts Requiem für die Gattin des Grafen Franz von Walsegg.

Auszug aus der Kirche

Es war das 19. Jahrhundert, in dem das Requiem aus der Kirche auswanderte und seine Funktion änderte. Die „Grande messe des morts“ von Hector Berlioz, ein Raumklangkoloss von bislang nicht gekannten Maßen, war ein Auftragswerk des französischen Staates zum Gedenken an die Toten der Julirevolution von 1830. Hier gedachte eine Gesellschaft ihrer selbst. Solche Formen musikalischer Praxis bestätigen die These des französischen Soziologen Emile Durkheim, Religion sei nichts als die symbolische Repräsentation der Gesellschaft. „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms hingegen kehrt, im Vergleich zum katholischen Requiem, die Blickrichtung um: Nicht die Toten brauchen unsere Zuwendung; sie haben bereits die Verheißung der Seligkeit. Um die Lebenden muss man sich kümmern. Sie brauchen Trost, denn Übrigbleiben ist schlimmer als Gehendürfen. Und wer übrigbleibt, muss durch Anteilnahme gestärkt werden, also auch durch Ausweitung der Trauer über die Grenzen der Konfession hinweg.

Während Giuseppe Verdi, der nach Aussage seiner Gefährtin Giuseppina Strepponi „an nichts” glaubte, in seinem Requiem zum Gedenken an den Literaten Alessandro Manzoni die Schrecken am „Tag des Zorns” mit der Freude eines Splatterfilm-Regisseurs ausmalte, hielt sich Gabriel Fauré darin ganz zurück. „Alles, was ich an religiöser Illusion besitzen konnte, habe ich in mein ‘Requiem’ gelegt, das im Übrigen von Anfang bis zum Ende vom so menschlichen Gefühl des Vertrauens in die ewige Ruhe dominiert ist”, schrieb der Komponist 1921 in einem Brief.

Die Milde seiner Musik kommt aus der religiösen Skepsis ebenso wie aus dem Mitgefühl für die Hinfälligkeit des Menschen: „In einem Deiner letzten Briefe sprachst Du über Deine Bewunderung der Schöpfung und Deine Geringschätzung des Menschen”, schrieb er 1922 seiner Frau. „Bist Du gerecht, wenn Du die Welt als ordentlich, den Menschen jedoch als unordentlich hinstellst? Ist es tatsächlich seine eigene Schuld? Man schickte ihn in diese Welt, wo uns alles harmonisch erscheint, und wo er selbst vom Tag seiner Geburt an bis zu dem seines Todes dahintaumelt und -wankt”. Religiöse Skepsis führt bei Fauré nicht zu Ironie oder Destruktion, sondern zu Nachsicht. Skepsis schließt die Möglichkeit ein, dass der Glaube Recht habe, auch wenn man ihn nicht teilt.

Schon mit Robert Schumanns „Requiem für Mignon“ oder Max Regers „Requiem“ nach Friedrich Hebbel ist die Gattung Kunst geworden und hat sich von der Liturgie völlig gelöst. Das „Requiem für einen jungen Dichter“ von Bernd Alois Zimmermann beschreibt mit Textcollagen aus Dichtung und Zeitgeschichte die metaphysische Depression eines Menschen, der sich an die Kugelgestalt der Zeit ausgeliefert sieht, wodurch individuelles Handeln als Einspruch und Eingriff unmöglich wird. Es ist ein Requiem auf den Sinn des Lebens in toto, wo wenige Jahre zuvor Dmitri Schostakowitsch mit seiner vierzehnten Symphonie den Sinn des Todes, knöchern kichernd, bezweifelte und damit dessen romantische Erotisierung bei Richard Wagner durchstrich. Das Requiem von Hans Werner Henze hat am Ende die Sprache verloren: Neun geistliche Konzerte für Instrumente sind übrig geblieben.

Durchlässig, aber bewohnbar

So wie das Requiem fünfhundert Jahre lang nicht festgelegt war, so öffnet es sich jetzt wieder. Bent Sørensen schrieb zwischen 1985 und 2007 mehrere „Fragmente eines Requiems“ als Interpolationen zur „Missa pro defunctis“ von Johannes Ockeghem. Jüri Reinvere dichtete 2009 für sein „Requiem“ einen eigenen englischen Text, der sich an Menschen wendet, die nicht nur der liturgischen, sondern gar der biblischen Sprache fremd geworden sind; aber er gibt den christlichen Horizont nicht auf.

Das Requiem ist durchlässig geworden und doch bewohnbar geblieben: für Glaubende, Zweifelnde, Verzweifelte, Hoffende. Sogar ein Requiem für die Schöpfung, das die außermenschliche Kreatur mit einschlösse, stünde nicht ohne theologische Rechtfertigung da. Ein Dichter und Pfarrer, Christian Lehnert nämlich, schrieb „Das ängstliche Harren der Kreatur“ als Text für ein Chorwerk von Thomas Jennefelt. Requiem für einen Hund – das kann mehr sein als ein Witz unter Zynikern.

 

Den Text von Jan Brachmann finden Sie auch in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks welche der Neuen Musikzeitung von Februar 2017 beiliegt.

Weitere Informationen zu den Konzerten mit Mariss Jansons am 30./31.3.2017, die Rihms „Requiem Strophen“ auf dem Programm haben, finden Sie auf www.br-musica-viva.de.


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