StartseiteHome ES KOMMT AUF DAS HÖREN AN – Winrich Hopp über die musica viva-Spielzeit 2016/17

ES KOMMT AUF DAS HÖREN AN – Winrich Hopp über die musica viva-Spielzeit 2016/17

Die musica viva-Konzertsaison 2016/17 präsentiert 11 Veranstaltungen, darunter 5 Konzerte mit dem Symphonieorchester, zwei davon zusammen mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Außerdem gastieren das Arditti-Quartet und – anlässlich des räsonanz-Stifterkonzertes der Ernst von Siemens Musikstiftung – das Mahler Chamber Orchestra mit dem MusicAeterna Choir. Neue Werke von Milica Djordjevic, Nikolaus Brass, Oscar Bianchi, Hans Thomalla, Mark Andre und Salvatore Sciarrino kommen zur Uraufführung. Die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Requiem-Strophen“ leitet Mariss Jansons. Ein Gespräch mit dem Künstlerischen Leiter der musica viva, Winrich Hopp.

Bettina Schleiermacher: Das musica viva-Programm der neuen Konzertsaison 2016/17 hat eine ziemliche Höhenlage…

Winrich Hopp: Wie meinen Sie das?

Schleiermacher: Nun, es sind eine Reihe von Sopranistinnen zu Gast: Donatienne Michel-Dansac, Sarah Maria Sun, Mojca Erdmann, Anna Prohaska, Sophie Burgos und Anja Petersen.

Hopp: Stimmt. Das ist mir bei der Programmwerdung auch aufgefallen.

Schleiermacher: Das war keine Absicht, kein Konzept?

Hopp: Zumindest kein Konzept, das am Reißbrett vorab entworfen wurde. Aber als die Tendenz sich abzeichnete, wollte ich auch nichts dagegen unternehmen.

Schleiermacher: Auch die männlichen Stimmen unter den Solisten halten sich in den höheren Lagen auf: Hanno Müller-Brachmann ist ein Bassbariton, in Matthias Pintschers with lilies white wirken drei Knabenstimmen mit, und Sciarrinos neues Streichquartett enthält einen Part für Countertenor.

Hopp: Der Countertenor ist eine eigenständige Stimmlage geworden – neben Sopran, Alt, Tenor und Bass. Das ist eine Entwicklung im Stimmenfach, die seit den 80er Jahren deutlich verfolgbar ist. Jake Arditti gehört zu der jüngeren Generation. Ich glaube allerdings nicht, dass die Höhe der Stimmlagen die hervorstechende Erlebnisqualität der Spielzeit ist. Dafür unterscheiden sich die Werke und Komponisten zu sehr: Zender, Brass, Rihm, Grisey, Vivier, Sciarrino, Pintscher…

Schleiermacher: Dennoch wird die Saison sehr vom Singen, vom vokalen Klang geprägt. Der Chor des Bayerischen Rundfunks ist gleich zweimal dabei, und dann der MusicAeterna Choir aus Perm…

Hopp: Ja, das stimmt. Der Gesang ist ein deutliches Merkmal der Spielzeit. Und es wird wirklich gesungen: in Linien, chorisch, solistisch.

Schleiermacher: In der kommenden Saison wird Mariss Jansons erstmals ein musica viva-Konzert leiten. Wie ist es dazu gekommen?

Hopp: Wir hatten gleich mit meiner Übernahme der Künstlerischen Leitung der musica viva, also in der Saison 2011/12, angefangen darüber zu sprechen. Und ich bin ziemlich überrascht, wie schnell sich das Dirigat hat realisieren lassen. Es reicht ja nicht, einen Komponisten anzusprechen, ein gemeinsames Projekt zu finden, dann die Termine zu koordinieren usw., sondern es muss ja auch noch das Werk geschrieben, schließlich das Material erstellt werden. Bei all diesen musica viva-Auftragsarbeiten, staune ich immer wieder über die psychische und physische Konstitution der Komponisten, diesen Druck des ganzen „Apparates“, der sich auf ihnen aufbaut, auszuhalten und – produktiv zu bleiben. Wenn da nichts entsteht, gibt es ja auch nichts aufzuführen. Die Tatsache, dass es immer wieder gelingt, bedeutet nicht, dass es eine Selbstverständlichkeit ist.

Schleiermacher: Der musica viva-Auftrag hat schließlich zu Wolfgang Rihms Requiem-Strophen geführt, ein abendfüllendes Werk…

Hopp: … für Chor und Orchester, 2 Soprane und einen Bassbariton. Die handgeschriebene Partitur ist bereits da. Komplett fertig. 15 Sätze…

Schleiermacher: Präsentiert werden die Requiem-Strophen im Rahmen eines musica viva Wochenendes im Herkulessaal, in zwei Konzerten, und an einem dritten Tag folgt dann das Mahler Chamber Orchestra mit dem MusicAeterna Choir unter der Leitung von Teodor Currentzis.

Hopp: Ja, das ist das räsonanz-Stifterkonzert 2017 der Ernst von Siemens Musikstiftung. Ohne diese Initiative wäre eine solche Einladung mit einem solchen Programm – Xenakis, Vivier und dann das 40stimmige Coro von Luciano Berio – vollkommen undenkbar. Das Programm passt hervorragend ins Prinzregententheater.

Schleiermacher: Es gibt noch ein zweites musica viva Wochenende am Ende der Spielzeit, mit 4 Veranstaltungen, drei Konzerten und der Happy New Ears Preisverleihung.

Hopp: Das hängt miteinander zusammen. Mark Andre erhält den diesjährigen Happy New Ears-Komponistenpreis. Ergänzend hat die musica viva zwei Kompositionsaufträge an Andre vergeben, einen für Orchester und einen weiteren für Streichquartett. Die Werke werden am Vortag bzw. am Tag der Preisverleihung uraufgeführt.

Schleiermacher: Das Arditti Quartet ist bei dem Wochenende prominent vertreten.

Hopp: Das Quartett gibt zwei Abende: Das Andre-Stück, eine Uraufführung eines neuen Werkes von Sciarrino für Countertenor und Streichquartett, die Deutsche Erstaufführung eines neuen Stücks für Gitarre und Streichquartett von Wolfgang Rihm mit Eliot Fisk und dann die Silk House Sequences von Harrison Birtwistle. Zwei Tage später spielen sie alle vier Streichquartette von Jonathan Harvey. Auch im Orchesterkonzert gibt es ein Werk von Jonathan Harvey. Das zweite musica viva Wochenende bietet ein ziemlich opulentes Programm und praktisch lauter Erstmaligkeiten für München.

Schleiermacher: Die musica viva Wochenenden bieten Ihnen die Möglichkeit, die Programme verstärkt thematisch zu verschränken?

Hopp: Die Möglichkeit schon, aber ich mache davon nicht zwingend Gebrauch. Die musica viva Wochenenden sind nicht Veranstaltungsformate, die sich durch eine gesteigerte musikalische Außergewöhnlichkeit von den Einzelkonzerten der Saison abheben. Sondern es sind Ballungen, durch die für kurze Zeit die Präsenz der Gegenwartsmusik in der Öffentlichkeit erhöht, Anreisenden die Möglichkeit eines längeren Aufenthaltes in der Stadt eröffnet wird, ohne gleich ein Festival veranstalten zu müssen. Es sind Formen, die sich aus dem Verlauf der Konzertsaison und ihren praktischen Möglichkeiten ergeben, und die sich stets um ein musica viva-Konzert mit dem Symphonieorchester herumlagern. Der Konzertreihencharakter ist etwas sehr Kostbares für die Gegenwartsmusik, für das Orchester: Er ermöglicht die Kontinuität der Auseinandersetzung mit der Musik.

 

Schleiermacher: Die musica viva-Saison verzeichnet 8 Uraufführungen, alles Auftragsarbeiten der musica viva. Gleich im Dezember gibt es im Orchesterkonzert zwei neue Werke, von Milica Djordjevic und Nikolaus Brass, kombiniert mit György Ligetis Violinkonzert. Daran schließt ein Late Night Konzert in der Bürgersaalkirche an mit Werken von Philippe de Vitry, Guillaume de Machaut, Wolfgang von Schweinitz und Chris Newman. 7 Komponisten, die zeitlich, biografisch, stilistisch denkbar weit auseinander liegen. Wie ist das Programm zustande gekommen?

Hopp: Das kann ich gar nicht mehr sagen. Aber es eröffnet in seinem Abwechslungsreichtum einige interessante und besondere Verdichtungen. Beispielsweise der osteuropäische Kontext: Milica Djordjevic stammt aus Serbien, Kurzecks Erzählung Der goldene Steig, auf die das neue Werk von Brass sich bezieht, spielt in Böhmen, Ligeti stammt aus Ungarn, und das Violinkonzert hat in seiner inneren Polystilistik etwas von einer Völkervielfalt. Bedeutsam im Violinkonzert ist andererseits der Einfluss der mittelalterlichen Ars Subtilior, womit wir dann bei Machaut und Vitry in der anschließenden Late Night Veranstaltung sind. Aber deren Musik wird neu gedeutet und zu Gehör gebracht durch die pythagoreische Stimmung der Instrumente. Es sind „Adaptionen“, die zur Sphäre der Mikrotonalität, einer spektralen Harmonik und Modulierbarkeit gehören, also alles Dinge, für die sich Ligeti, Zender, Grisey und Harvey interessiert haben. Das Prinzip der „Adaption“ ist ebenfalls für die Arbeit von Chris Newman charakteristisch, auch wenn es da nicht um Mikrotonalität, sondern um Beethoven geht.

Schleiermacher: Ist diese „Sphäre“ der Mikrotonalität und spektralen Harmonik ein die Programme übergreifendes Moment der Spielzeit?

Hopp: Das kommt auf den Hörer an, einige Werke geben das her. Aber es gibt auch die sprituell-religiöse Sphäre, die wirksam werden kann: Ich denke da an die Logos-Fragmente von Zender, an Rihms Requiem-Strophen, an Harvey, Andre und Grisey. Durch das Programm gehen viele rote Fäden, längere und kürzere, direkte, verschlungene, subkutane und schwebende. Es kommt wirklich auf den Hörer an, auf das, was er kennt und noch nicht kennt, was ihm auffällt, weil er es „so“ noch nie gehört hat.

Das gesamte Interview finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks welche der Neuen Musikzeitung von September 2016 beiliegt.

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