Komponisten & Werke
Fett, Rundfunk und Speicher
Im Juli ist Enno Poppe gleich dreimal präsent: als Komponist, Dirigent und mitwirkender Instrumentalist. Ein Gespräch mit Martina Seeber.
Von den Akkorden seines neuen Orchesterwerkes FETT sagt Poppe, dass sie den Hörer »harmonisch aus den Schuhen hauen«. Aber aus den Schuhen hauen auch die beiden anderen Werke: Sowohl Rundfunk als auch Speicher dauern jeweils über eine Stunde.
Martina Seeber: Lachen Sie manchmal beim Komponieren?
Enno Poppe: Immer mal so zwischendurch. Ich bin beim Komponieren insgesamt sehr expressiv, auch sehr laut, weil ich alles, was ich entwickele, auch singe. Ich versuche, die Rhythmen durch meinen Körper gehen zu lassen. Ich singe, ich trommele auf dem Tisch. Und da lache ich dann auch mal über irgendetwas. Das kann mit musikalischem Humor zu tun haben, wenn ich im Stress bin, ist es manchmal aber vielleicht auch Ausdruck reiner Hysterie.
Martina Seeber: Ich lache bei Ihrer Musik manchmal, weil sie mich überrumpelt. Da ist das Lachen dann eine Mischung aus Überraschung, Irritation und Freude.
Enno Poppe: Das sind doch die schönsten Momente beim Musikhören, wenn man sich fragt, wo das gerade herkommt. Das ist sehr wichtig.
Martina Seeber: Überraschen Sie sich auch selbst? Die beiden Kompositionen Speicher für Ensemble und Rundfunk für neun Synthesizer sind ausgesprochen lange, abendfüllende Werke. Da braucht es wahrscheinlich vor allem eine strenge Planung.
Enno Poppe: Das hängt davon ab, wie offen die Planung ist. Nehmen wir als Beispiel Speicher für Ensemble. Hier sind die Proportionen sehr genau geplant. Zugleich sind die Inhalte sehr frei. Bei der der Planung geht um wichtige Fragen: Wann kommt das gleiche noch mal? Wann kommt etwas ähnliches, wann kommt etwas ganz anderes? Wenn die Planung vorsieht, dass jetzt etwas ganz Anderes kommen soll, muss ich mir etwas einfallen lassen. Die Überraschung ist in diesem Plan ein Platzhalter, inhaltlich ist sie überhaupt nicht vorausbestimmt.
Martina Seeber: Und dann lassen sie sich eine Überraschung einfallen.
Enno Poppe: Ja, da steht dann heute einfach »ungeplant«. Das ist wichtig. Ich mache mir keine Sorgen, dass mir keine Details einfallen. Worüber ich viel mehr nachdenke, ist der Gesamtaufbau, die Dramaturgie. Im Münchner Konzert haben wir mit Rundfunk und Speicher zwei echte Großformen. Für solche Projekte brauche ich eine genaue Übersicht, damit ich in der Lage bin, alles zusammenzudenken, damit es in der Länge überhaupt funktioniert.

Martina Seeber: Sie haben aber auch gesagt, in Speicher herrsche Unordnung. Diese Unordnung ist also kein spontanes Chaos?
Enno Poppe: Das hängt von der Ebene ab. Wenn man nicht die große Form, sondern die Mikroform betrachtet, also das, was von einer Sekunde zur nächsten passiert, dann ist ja gerade auf dieser Ebene fast nichts planbar. Dort entstehen binnen kürzester Zeit unglaublich viele Bezüge, die sofort ins Komplexe gehen. Je länger ein Stück
dauert, desto mehr Beziehungen ergeben sich. Das Chaos und die Unordnung entstehen aus der Systematik selbst, zum Beispiel durch Rückbezüge.
Martina Seeber: Wie kam es überhaupt zu den großen Formen? Was kann kann ein Achtzigminüter, was ein Zwölfminüter nicht kann?
Enno Poppe: Interessant war die Beobachtung, dass ich für die langen Stücke nicht mehr Ideen oder Material brauche als für kürzere. Das hat schon Morton Feldman so gesagt. Er hat festgestellt, dass er für ein fünfstündiges Stück sogar noch weniger Material braucht als für zwanzig Minuten Musik. Vielleicht ist das übertrieben, aber es stimmt, dass man für längere Stücke nicht mehr Material benötigt. Dafür schaut man genauer und mit mehr Geduld hin.
Martina Seeber: Morton Feldman lässt dem Publikum in seinen langen Werken aber auch mehr Raum, sich selbst wahrzunehmen. Ihre Musik ist ganz anders.
Enno Poppe: Ja, sie ist anders, weil sie nicht flächig ist. Speicher ist organisch, das Sück wächst, es blüht auf und es gibt eine sprechende Dramaturgie. In Rundfunk gibt es flächige Strukturen, in denen sich die Musik zwar weiterbewegt, aber von der Textur bestimmt ist. Rundfunk enthält nichts Rhetorisches. Es besteht nur aus Punkten, die zu Mustern zusammengesetzt sind.
Martina Seeber: Über Rundfunk haben Sie gesagt, Sie wollten historisches elektronisches Material vor dem Vergessen retten. Muss man Klänge retten?
Enno Poppe: Es gibt so viele wunderbare alte Stücke und alte Synthesizer mit tollen Sounds. In den Siebziger Jahren hat man oft nur an der Oberfläche gekratzt und dann nicht daran weiter gearbeitet, sondern gleich neue Instrumente erfunden. Ich verwende in meinen Werk zwar keine historischen Synthesizer sondern Nachbauten, aber ich finde, allein die Klänge können sehr viel mehr als das, was man damals mit ihnen gemacht hat.
Martina Seeber: Die neun Tasteninstrumente werden von den Mitgliedern des ensemble mosaik und von Ihnen selbst gespielt. Das Ensemble hat aber eigentlich nur einen Pianisten.

Enno Poppe: Es gibt drei große und sechs kleine Keyboards. Die drei großen spielen in der Mitte der Pianist Ernst Surberg und außen der Geiger Chatschatur Kanajan und ich. Dazwischen stehen die sechs kleinen Keyboards. Ich habe es so plant, dass es nicht schwer spielbar ist. Vor allem kann ich die Taste aber auch frei belegen. Gerade im letzten Teil sind sie erst mit 3, dann 9 und am Schluss mit 16 Klängen belegt. So kann man auch mit wenig Spielaufwand einen komplexen Klang erzeugen. Ich brauche hier keine hochvirtuosen Spielfiguren. Viel interessanter sind ja die Farbunterschiede. Ich habe immer neun verschiedene Klangfarben, die ich verändern kann. Allein dadurch entsteht schon eine große flirrende Klangfläche, deren Komplexität man kaum noch wahrnehmen kann. Pianisten brauche ich dafür jedenfalls nicht. Das Besondere am ensemble mosaik ist aber, dass alle Mitglieder im Umgang mit Elektronik ungemein erfahren sind. Allein, wie das Ensemble dieses Stück auf- und abbaut. Ich wüsste kein Ensemble, dass das so schnell schaffen würde. Sie nehmen die Instrumente als ihre eigenen wahr, dadurch ist das Stück auch überhaupt machbar.
Martina Seeber: Die neue Orchesterkomposition FETT für die musica viva-Konzertreihe des Bayerischen Rundfunks ist nicht abendfüllend, aber mit vierfachen Bläsern groß besetzt. Was beschäftigt Sie bei der Arbeit?
Enno Poppe: Akkorde, Akkordtürme. Mit dem Format des Orchester habe ich mich lange schwer getan. Ich hatte immer das Gefühl, ich könne mit Ensembles vieles besser realisieren. Hier geht es mir darum, etwas zu machen, was nur das Orchester kann. Es gibt Akkordballungen aus 25, 30 oder auch 40 Stimmen, die außerdem mikrotonal sind. Einige Akkorde, die nach oben hin sehr eng, nach unten sehr weit werden, bestehen komplett aus Achteltönen. Das ist ein Abenteuer. Eigentlich gibt es in diesem Werk überhaupt keinen normalen Akkord. Es besteht nur aus Akkorden, die einen harmonisch aus den Schuhen hauen. Und die Ballungen werden zum Ende hin immer extremer, immer monströser. Man soll die Kontrolle verlieren. Darauf freue ich mich eigentlich sehr.
Martina Seeber: Auf den Kontrollverlust beim Hören? Für die Musiker bedeutet so eine extreme Mikrotonalität aber auch, dass sie vielleicht die Orientierung verlieren.
Enno Poppe: Es betrifft alle. Wenn für die Spieler das ganze Bezugssystem außer Kraft gesetzt wird, gibt es kaum noch Orientierungspunkte. Man kann nicht mehr einschätzen, was richtig und was falsch ist. Meine Arbeit mit Mikrointervallen ist anders als in der Spektralmusik bei Gérard Grisey, der vom Naturton ausgeht und Reinheit anstrebt. Ich mag eigentlich gerade das Unsaubere, Unreine und das Gefühl, dass etwas falsch ist und doch zugleich einen Sog auf mich ausübt, gerade aufgrund dieser Falschheit.
Martina Seeber: Können die Musiker ein Gefühl für die Mikrointervalle entwickeln? Oder müssen sie alle Stimmgeräte auf die Pulte legen?
Enno Poppe: Das weiß ich noch nicht genau. Ich bin sehr gespannt. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München ist extrem erfahren und unglaublich gut. Sicher ist aber, dass wir niemals die Zeit haben werden, jeden einzelnen Ton in den Proben mit dem Stimmgerät genau zu kontrollieren. Schon die Notenschrift ist in dieser Hinsicht ja ungenau. Ich kann das Stück nicht so mikrotonal aufschreiben, wie ich es hören möchte. So viele Vorzeichen könnte ich gar nicht erfinden. Die in der Praxis nicht genau intonierten Töne sind also Teil des Systems.
Martina Seeber: Wird sich in den Proben noch viel entwickeln?
Enno Poppe: Das müssen wir ausprobieren. Es ist ein Trugschluss zu glauben, Komponisten müssten vorher immer alles wissen. Wenn ich in die Probe gehe und schon weiß, wie mein Stück klingt, muss ich es nicht aufschreiben. Zum Komponieren gehört Neugier, es ist ein Wagnis.
Diesen Beitrag finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks, welche der Neuen Musikzeitung vom April 2019 beiliegt.
Weitere Informationen zum Konzert am 5. Juli 2019 (Enno Poppe als Komponist)
Weitere Informationen zum Konzert am 6. Juli 2019 um 17 Uhr (Enno Poppe als Instrumentalist)
Weitere Informationen zum Konzert am 6. Juli 2019 um 19 Uhr (Enno Poppe als Dirigent)
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