Komponisten & Werke
Fortwährende Grenzerfahrung
„Es geht an die Grenzen, wie immer bei Rihm.“ – Jörg Widmann im Gespräch mit Sibylle Kayser über Wolfgang Rihms 4 Studien zu einem Klarinettenquintett, das am 8. März 2022 mit Solistinnen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks aufgeführt wird.
Jörg Widmann © Astrid Ackermann
SIBYLLE KAYSER: Herr Widmann, was bedeutet es Ihnen, im Rahmen dieses Konzertes anlässlich von Wolfgang Rihms 70. Geburtstag als Klarinettist mitzuwirken?
JÖRG WIDMANN: Meine Zusammenarbeit mit Wolfgang Rihm als Klarinettist ist von Anfang an eng mit dem Bayerischen Rundfunk verbunden. Ich habe bei Rihm 1998 Komposition studiert. In dieser Zeit rief er mich plötzlich an, weil er mich im Fernsehen Klarinette spielen sah, und sagte: Ich muss etwas für dich schreiben. Daraufhin entstand seine erste Komposition für mich, das Klarinettenkonzert Über die Linie II, das ich 1999 zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Rahmen der musica viva uraufgeführt habe. Diese Uraufführung werde ich nie vergessen, denn ich hielt dieses Stück anfangs für unspielbar. Nicht, weil es fingertechnisch zu schwierig wäre, sondern vor allem, weil es eine extreme klangliche und physische Herausforderung darstellt. Rihm jagt die Klarinette durch alle möglichen und unmöglichen Register – mit der Vorgabe, es möge aber immer schön und sanglich klingen – und dabei gibt es kaum Pausen. Dieses 40minütige Stück fühlt sich an wie dreimal Schumanns Fantasiestücke hintereinander, und die sind für uns schon eine Herausforderung, weil Schumann selten daran denkt, dass wir Klarinettisten auch mal Luft holen müssen und die Lippen zwischendurch Entspannung brauchen. So hat mich Rihm vor eine riesige Aufgabe gestellt – ich glaube, das Stück wurde bislang von keinem anderen Interpreten aufgeführt, weil es so extrem ist. Ich muss also heute an den Anfang meiner Zusammenarbeit mit Rihm zurückdenken. Damals wussten wir beide noch nicht, dass er in der Folge mehr als zwanzig Stücke für mich als Klarinettisten schreiben würde.
SIBYLLE KAYSER: Das für Sie und das Minguet-Quartett geschriebene Klarinettenquintett wurde 2003 im Rahmen der Römerbad-Musiktage in Badenweiler uraufgeführt. Wieso nennt es Rihm „4 Studien zu…“ und nicht einfach „Klarinettenquintett“?
JÖRG WIDMANN: Ein Klarinettenquintett zu schreiben ist eine große Herausforderung, allein schon wegen der musikgeschichtlichen Dimensionen: Es waren immer Hauptwerke großer Komponisten wie Mozart, Brahms und Reger. Und es waren immer Spätwerke. Drastisch gesagt: die Komponisten sind kurz danach gestorben. Bei Reger war es tatsächlich sein letztes Stück und unbestritten ein Meisterwerk – eine Mischung aus Mozart und Brahms, mit seinem ganz eigenen Ton. Und in diese Reihe ist auch ganz klar das Rihm’sche Klarinettenquintett zu verorten, weniger in die Witz- und- Verve- Stücke von Weber oder Hindemith. Rihm beginnt da, wo Brahms und Reger aufhören. Und ich bin davon überzeugt, dass – eben, weil dies eine Tradition von so gewichtigen Stücken ist – sich Rihm davor scheute, es „Klarinettenquintett“ zu nennen, sondern den etwas ausweichenden Titel „4 Studien zu einem Klarinettenquintett“ wählte. Das ist natürlich eine Farce. Allein schon, wenn man den Umfang dieses Stückes betrachtet. Es dauert fast 40 Minuten. Es gehört also sowohl vom Umfang, von der Gewichtung und auch vom Charakter her unbedingt in die Reihe der großen Klarinettenquintette. Aber es gibt auch ganz konkrete Anknüpfungspunkte. So endet der vierte Satz mit der aufsteigenden Quinte h-fis. Ich als Klarinettist kann das gar nicht anders verstehen als eine Umkehrung der Schlusswendung des Brahmsschen Klarinettenquintetts, das mit fis-h endet. Rihm nimmt demnach erkennbar Bezug zur Tradition, aber er wählt die offene, die fragende Variante.
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SIBYLLE KAYSER: Bei dieser Jagd lotet Rihm also erneut Ihre physischen Grenzen aus?
JÖRG WIDMANN: Absolut, ja. Was die körperliche Kraft und Kondition betrifft, ist dies eines der schwersten Stücke überhaupt, was man beim ersten Hören gar nicht denken würde. Der zweite Satz ist für alle fünf horrend schwer, was das Zusammenspiel betrifft und auch die Streicherpartien sind anspruchsvoll. Aber für den Klarinettisten geht es darum, das überhaupt zu schaffen, denn schon nach dem ersten Satz merkt man etwa die Beanspruchung der Lippen deutlich. Es geht an die Grenzen, wie immer bei Rihm.
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SIBYLLE KAYSER: Wie setzt Rihm die klanglichen Möglichkeiten der Klarinette ein?
JÖRG WIDMANN: Rihm verwendet das ganze Spektrum, das die Klarinette zu bieten hat, von ganz hohen, schrillen Tönen, bis hin zu den allertiefsten, die zum Teil wie „tierische Laute“ klingen sollen. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass Rihm die dunklere A-Klarinette besonders liebt. Keines seiner über zwanzig Stücke, die er für mich geschrieben hat, ist für die B- oder Es-Klarinette. Er versteht dieses tiefere, dunklere Register, genau wie Mozart oder Brahms. Schon sein erstes Klarinettenkonzert von 1999 ist für die A-Klarinette. Ich habe ihm damals die Bechermechanik gezeigt, eine Besonderheit des deutschen Klarinettensystems. Mit einer Klappe kann man den tiefsten Ton, das Cis, nochmal um einen Drittelton erniedrigen. Und das nutzt Rihm sowohl im Klarinettenkonzert als auch hier im Klarinettenquintett exzessiv aus – auch hier wieder eine lustvolle Grenzüberschreitung. Es gibt niemanden in der zeitgenössischen Musik, der so für die Klarinette schreibt wie Rihm. Es gibt einen ganz anderen Gestus in der französischen Tradition oder in der US-amerikanischen, auch seine deutschen Kollegen behandeln die Klarinette anders. Rihm hat eine ganz eigene, fast lyrische Art. Aber in diesem Punkt reizt er wirklich alles aus, sodass das Ergebnis immer etwas Neues, bislang Unerhörtes ist.
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SIBYLLE KAYSER: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie.
Das Interview fand am 3. Februar 2022 statt.
Das vollständige Interview mit Jörg Widmann finden Sie im Programmheft des Konzerts vom 8. März 2022.
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