Ensembles & Performer
Geerdet und körperlich
Die Pianistin Tamara Stefanovich spielt am 29. Mai 2020 den Solopart "locus…doublure…solus" für Klavier und Orchester von Olga Neuwirth. Pia Steigerwald sprach mit der Pianistin.
Tamara Stefanovich © Marco Borggreve
Pia Steigerwald: Sie begeistern sich für ein umfangreiches Repertoire von Bach bis hin zur zeitgenössischen Musik. Auf Ihrem Konzertplan 2020 stehen Klavierwerke von Ravel, Messiaen, Bartòk, Birtwistle, Scarlatti, Beethoven, Weber, Ives. Kürzlich haben Sie in Tel Aviv Mozart und Brahms gespielt. Woher kommt Ihr breit aufgestelltes Interesse und auch Ihr Können, diese unterschiedlichen Stile zu spielen?
Tamara Stefanovich: Die Entscheidung, etwas zu spielen, ist für mich viel natürlicher als etwas bewusst nicht zu spielen. Ich hatte eine Lehrerin, die mir von Anfang an die ganze Bandbreite der Klaviermusik vorgestellt hat. In meinem ersten Recital spielte ich Telemann, Bach, Mozart, Chopin, Debussy und eine Sonate einer zeitgenössischen Komponistin.
Pia Steigerwald: Mit Komponisten wie György Kurtág, Hans Abrahamsen, George Benjamin, Peter Eötvös verbinden Sie zahlreiche Projekte, sie arbeiteten auch mit Pierre Boulez zusammen. Für die musica viva werden Sie jetzt erstmals ein Stück von Olga Neuwirth aufführen.
Tamara Stefanovich: Bisher gab es tatsächlich keine Zusammenarbeit mit Olga Neuwirth. Aber nicht aus mangelndem Interesse. Als ich 2000 ein Konzert des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Pierre Boulez mit einem Stück von Olga Neuwirth hörte, war ich fasziniert, wie herrlich und unverfroren hier jemand Konventionen in Frage stellte. Es hatte etwas sehr Erfrischendes. Seither habe ich ihre Arbeit verfolgt und als die Anfrage der musica viva kam locus…doublure…solus zu spielen, war ich sehr erfreut und dankbar.

Pia Steigerwald: Olga Neuwirth sagte einmal in einem Interview, sie habe sich lange dagegen gewehrt, etwas für Klavier zu schreiben und sie möge lieber Instrumente, die man verstimmen kann, „wo immer etwas verschwimmt, verschmiert, verzerrt.“
Tamara Stefanovich: Was ich an Olgas Konzept sehr mag, ist ihre Sicherheit im Klavierklang. Sie benutzt das Instrument wie ein Motor, der verschiedene Landschaften durchfährt, mit einer Kontinuität und äußersten Präzision. Sie täuscht durch Verstimmungen oder mikrotonale Manipulationen lediglich Unschärfe vor. Das Klavier ist das Medium der Energie. Alles drum herum ist in Frage gestellt.
Pia Steigerwald: Das Wort „Landschaft“ deutet in Richtung des Werktitels. Olga Neuwirth bezieht sich auf zwei literarische Vorlagen von Raymund Roussel. Zum einen auf ein Besitztum bei Paris mit großem Park in seinem Roman Locus Solus, durch das der Forscher und Erfinder Martial Canterel eine Gruppe von Gästen führt und ihnen allerhand Skurriles zeigt; zum anderen auf die Novelle La doublure, die die Geschichte eines erfolglosen Schauspielers erzählt, in die detaillierte Beschreibungen der Karnevalszüge von Nizza eingefügt sind. Dieses imaginative Durchschreiten von Räumen, ist das nicht auch der Weg, den man geht, wenn man ein Stück Musik spielt?
Tamara Stefanovich: Auf jeden Fall. Im Klavierkonzert gibt es einen Fluss, eine Kontinuität – non stop. Es gibt keinen Moment, wo es nicht weiteratmet. Und selbst wenn die Klänge manchmal etwas Unscharfes suggerieren, gibt es kein Vakuum. Auch keine Verharmlosung, weder beim Klang, noch beim Rhythmus oder der Form. Selbst wenn es zum Teil gestisch ist, gibt es immer eine bestimmte Grundausrichtung, die verankert ist. Das spricht mich sehr an.
Pia Steigerwald: Die Musik besteht wie der Roman Locus Solus aus sieben Abschnitten. Könnten Sie dem Hörer die Reise beschreiben, die Sie als Solistin am Klavier durch das Stück machen?
Tamara Stefanovich: Wie das Klavier selbst der Träger der vorwärts drängenden Energie ist, bin ich es auch als Pianistin in diesem Stück. Als Hörer hat man keine Zeit, sich auszuruhen und darüber nachzudenken, sondern es geht immer weiter vorwärts. Der Klavierklang ist geerdet, dissonant, stringent, beide Hände spielen synchron, die eine Hand unterstützt die andere.
Pia Steigerwald: Im vierten Satz verwenden Sie einen E-Bow. Können Sie diese Technik etwas näher erläutern?
Tamara Stefanovich: Der E-Bow ist eigentlich ein Zusatzgerät, das eine Saite elektromagnetisch in Schwingung versetzt. Ich lege den E-Bow auf die Klaviersaiten im Flügelinnenraum und drücke das Pedal. Eine Technik, die mittlerweile häufig eingesetzt wird. Mein fünfjähriger Sohn sagt, man erzeugt einen feenhaften Klang.
Pia Steigerwald: Jetzt verleiten Sie mich dazu, Sie damit zu konfrontieren, was die Fachpresse sagt. Dort nennt man Sie „the dexterous wizard”, also die geschickte Zauberin.
Tamara Stefanovich (lacht): Das ist herrlich. Ich möchte mich zwar nicht als Zauberin stilisieren, aber das Publikum durch Musik und Klang verzaubern, den Hörer auf eine Reise mitnehmen, die nicht alltäglich ist – etwas, das im Grunde jeder erleben möchte, wenn er ein Konzert besucht.
Pia Steigerwald: Außerdem nähern Sie sich einem neuen Part mit Hilfe des „Method Acting“.
Tamara Stefanovich: Wenn ein Werk für mich neu ist, versuche ich so früh wie möglich die Noten zu bekommen. Aufnahmen höre ich grundsätzlich erst ganz kurz vor dem Konzert oder gar nicht. Zunächst lasse ich die Schrift, den Notentext visuell auf mich wirken: Ist der Komponist ein Architekt, ein Landschaftsmaler, ein Strukturalist? Jemand, der alchimistisch mit Klängen umgeht? Gibt es viele Noten oder wenige. Wo sind sie, in der Mitte des Registers oder weit voneinander entfernt. Gibt es Effekte? Das alles ist wie ein Stadtplan.
Pia Steigerwald: Und dann entscheiden Sie, wie Sie an die Einstudierung herangehen?
Tamara Stefanovich: Ja. Es gibt Stücke, die sehr viel Vororganisation benötigen und die man nicht gleich am Instrument selbst einstudieren kann. Es gibt Stücke, die körperlich-muskulär sehr anstrengend sind, für die man Kondition braucht. Bei den sechs Sonaten von Galina Ustwolskaja zum Beispiel war das Mindset die eigentliche Erarbeitung des Stückes, gar nicht das Spielen selbst. Man kann manchmal ganz schön getäuscht werden von seiner eigenen Klangvorstellung, seinem inneren Klang, und der Klangidee des Werkes selbst. Deswegen arbeite ich zunächst wie ein Dirigent und versuche, mich nicht vom Instrument verführen zu lassen. Ganz wichtig ist für mich auch eine psychologische Vorarbeit, d.h. mit welcher Seite meiner Persönlichkeit ich das Stück angehen muss.

Pia Steigerwald: Wie ist das für Sie, wenn Sie Olga Neuwirth spielen?
Tamara Stefanovich: Ihre Musik ist sehr geerdet, aber auch sehr körperlich. Mir kommt das entgegen, aber ich muss mich auch erst an alle Wendungen ihrer Musik gewöhnen, so dass ich richtig reagieren und alles so realisieren kann, um es dem Publikum weiterzugeben.
Pia Steigerwald: Ist Ihnen die Intention des Komponisten wichtig oder distanzieren Sie sich eher davon und kreieren ihre eigene Lesart?
Tamara Stefanovich: Wir sind alle eins. Für mich gibt es keine Trennung zwischen Notensetzer, Komponist, Klavierstimmer, Publikum, Stage Manager. Das sind alles Teile eines Teams, die zusammen etwas Neues schaffen.
Pia Steigerwald: Sie sind sehr aktiv auf Facebook und Twitter. Welche Bedeutung haben für Sie soziale Medien?
Tamara Stefanovich: Das ist ein Versuch, mit einer Familie zu kommunizieren, die auf der Welt verstreut ist. Bei meiner Arbeit bin ich oft sehr alleine, und das ist eine Möglichkeit, nach außen zu kommunizieren. Jeder kann selbst entscheiden, was er teilen möchte mit der Gesellschaft. Wenn man respektvoll und verantwortungsbewusst miteinander umgeht, gibt es keine Gefahren.

Pia Steigerwald: Sie werden häufig als russische Pianistin bezeichnet. Wie gehen Sie mit diesem und anderen Missverständnissen bezüglich ihrer Biografie um?
Tamara Stefanovich (lacht): Es ist irgendwie alles wichtig und zugleich ist nichts wichtig. Für die jüngere Generation ist es vielleicht wichtig zu hören, dass Jugoslawien nicht mehr existierte, als sie geboren wurden. Ich erzähle meine Geschichte, weil es gerade heutzutage wieder mehr und mehr zu einer Verharmlosung kommt. Die Tochter einer Kroatin und eines Serben zu sein, aus dem ehemaligen Jugoslawien zu stammen ist Teil meiner eigenen Biografie, aber auch Teil eines größeren Zusammenhangs. Dass nicht alle Slawen aus Russland stammen, ist nur insofern wichtig, als es eine Mahnung sein kann, sich mehr mit Geschichte auseinanderzusetzen. Rassismus ist gefährlich, und obwohl ich Olga Neuwirth noch nicht persönlich kennengelernt habe, teile ich absolut ihre Meinung, dass es eine große Gefahr ist über Patriotismus zur reden und wie genau Sprache benutzt wird. Wir sind alle verantwortlich für dieses Land, und ich bin genauso ein Teil von Deutschland wie jemand, der hier geboren ist.
Pia Steigerwald: Noch eine Musikfrage zum Schluss. Sehen Sie im Klavierkonzert Anknüpfungen an die Musik anderer Epochen?
Tamara Stefanovich: Für mich war und ist es immer wichtig zu sehen, aus welcher „Familie“ die Komponisten kommen. Nicht im geographischen Sinne, sondern rein musikalisch gedacht. Ob also jemand eher in der Traditionslinie von Mozart steht, die sich ja dann auch bis Chopin und Debussy weiterentwickelte, oder eher von einer Beethovenschen Energie herkommt, die, wie ich finde, Olga Neuwirths Musik nähersteht – was jetzt sehr pauschal gesagt ist und sie vielleicht ganz anders sehen würde. Jede Musik kommt von irgendwoher. Wie ein Vulkan, der alle hundert Jahre zu leuchten beginnt und Lava spuckt.
Weitere Informationen zum Konzert am 29. Mai 2020 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks finden Sie auf www.br-musica-viva.de
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