Komponisten & Werke

GÈRARD GRISEY - L'Icône paradoxale

08.05.17 | Gérard Grisey

Beim musica viva Orchesterkonzert am 2.6.2017 präsentiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Gérard Griseys „L’Icône paradoxale“. Der Komponist Gérard Grisey (1946 - 1998) beschreibt in diesem Text unter anderem, wie ihn Pierro della Francescas „Madonna del Parto“ dazu inspiriert hat.

Gérard Grisey (1946 – 1998)

L’Icône paradoxale. Hommage à Piero della Francesca (1994)
Für zwei Frauenstimmen und großes Orchester in zwei Gruppen

 

Entstehungszeit: 1992 – 1994 

Auftraggeber: Kompositionsauftrag von Los Angeles Philharmonic und dem Orchester der Mailänder Scala

Uraufführung: 18. Januar 1996 in Los Angeles, USA, mit Lucy Shelton, Sopran, J. Felty, Mezzosopran, und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen

“L’Icône paradoxale” ist eine Hommage an Piero della Francesca und sein Fresko „La Madonna del parto” (Madonna der Geburt). Der Titel ist einem Essay von Yves Bonnefoy entliehen.

Die Malerei des 15. Jahrhunderts und besonders diejenige Piero della Francescas übt seit jeher eine solche Faszination auf mich aus, dass ich manch eine Wallfahrt in die Gegend von Arezzo, Monterchi und Borgo Sansepolcro unternommen habe. Doch erst im Jahre 1988, als ich eine Abhandlung von Thomas Martone über „La Madonna del Parto“ las, kam ich auf die Idee, eine Hommage für Piero della Francesca zu komponieren. 1991 begann ich an der Partitur zu arbeiten.

Zugleich christlich und heidnisch, leidenschaftlich und ruhevoll, Jungfrau und matriarchalische Göttin, Archetypus der Geburt und der Rätselhaftigkeit, kann „La Madonna del Parto“ nach dem Muster der Matrjoschka-Puppen gedeutet werden – auch sie matriarchalische Archetypen: Die energische Geste der den Vorhang beiseite schiebenden Engel und die Rundung des Damast-Baldachins entsprechen der Geste der Finger am aufgehenden Kleid der Madonna und der Rundung desselben. Ein Raum öffnet sich auf einen anderen Raum, der wiederum im Begriff ist, sich zu öffnen: das Unendliche wird suggeriert.

Zweifellos resultierte meine Faszination aus der Tatsache, dass auch meine Musik seit langem mit Korrespondenzen und der „Mise en abyme“ extrem unterschiedlicher Zeitebenen spielte (die Zeit der Wale, die Zeit der Menschen, die Zeit der Vögel…).

In meiner Komposition ist der Klangkörper in zwei mal zwei Ensembles räumlich aufgespalten: Das große Orchester ist in hohe und tiefe Instrumente geteilt und ein kleines Ensemble gliedert sich in zwei symmetrische Gruppen, die den menschlichen Stimmen zugeordnet sind.

Als vokalen Grundstoff verwendete ich die verschiedenen lateinischen und italienischen Signaturen Piero della Francescas, deren sonographische Analyse mir üppiges konsonantisches Material lieferte, sowie einige Auszüge aus seinem Traktat „De prospectiva pingendi“.  Diese Abhandlung über die Perspektive, eine der ersten ihrer Art, geschrieben in der italienischen Sprache des 15. Jahrhunderts am Lebensabend des Malers, weist die Bescheidenheit eines handwerklichen Lehrbuches auf. „…markiere A und B, nimm einen Zirkel, miss AB ab und stelle den doppelten Abstand AB ein…“ – das hört sich nicht nach einem ästhetischen Traktat an. Nicht der kleinste poetische Aufschwung, nicht der geringste Ansatz zu einem Manifest! Und doch reift in der jubilierenden Demut dieses Textes die gesamte Malerei der Renaissance heran. Ich habe daraus einige Sätze ausgewählt, die einem musikalischen Ansatz besonders nahezukommen schienen: „…chiari et uscuri secondo che i lumi le divariano…“ (hell und dunkel gemäß ihrer ständigen Veränderung durch das Licht). Wie hätte ich der Versuchung widerstehen können, genau jenen Teil des Textes zu verwenden, der die musikalische Struktur in dem Moment beschreibt, in dem man sie erkennt.

Für die Zeitstruktur verwendete ich die Proportionsverhältnisse, die dem Aufbau des Freskos zugrundeliegen: 3 – 5 – 8 – 12.

Die Form von „L’Icône paradoxale“ beruht auf zwei konträren Entwicklungen nach Art zweier Diagonalen, deren Schnittpunkt den Mittelteil des Stücks bildet. Vier übereinander geschichtete Abläufe füllen die gesamte Dauer der Komposition aus, wobei jeder in seinem eigenen Tempo abläuft:

Temps I, extrem komprimiert: Die „hohen“ Instrumente des großen Orchesters bringen das ganze Stück in 16 Sekunden zu Gehör – wie ein Gemälde, von dem man zunächst aus der Ferne lediglich die ungefähre Aufteilung von Farben und Formen wahrnehmen kann. Diese Komprimierung wird durch progressive und wiederholte Fragmente verwirklicht.

Temps II, „linguistisch“: Die beiden Frauenstimmen und das kleine Ensemble zeichnen eine langsame Evolution vom Vokal zum Konsonanten, von der Farbe zum geräuschhaften Klang, vom ausgehaltenen Ton zum Rhythmus nach.

Temps III, gedehnt: Die „tiefen“ Instrumente des großen Orchesters artikulieren im Zeitlupentempo die geräuschhaften Konsonanten der verschiedenen Signaturen Piero della Francescas.

Temps IV, extrem gedehnt: Im Tutti des großen Orchesters entfaltet sich langsam eine spektrale Interpunktion, die von Anfang bis Ende der „Icône“ die verschiedenen harmonischen Räume bestimmt. Da Temps II und III sich am Schnittpunkt der Diagonalen kreuzen, erfasst eine kontinuierliche und periodische Rotation den gesamten verfügbaren Klangraum. Die Partitur mündet in eine Kumulation von Temps I, II, und IV sowie eine kurze Coda als Résumé des gesamten spektralen Materials.

 

Weitere Informationen zum Orchesterkonzert mit Johannes Kalitzke am 2.6.2017, Sie auf www.br-musica-viva.de.


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