Ensembles & Performer

„Ich bin ein Erzähler“

21.01.20 | Pia Steigerwald

Pia Steigerwald traf den Bariton Georg Nigl im August 2019 während seines Engagements bei den Salzburger Festspielen zu einem Gespräch über Matthias Pintschers SHIRIM-Zyklus, bei dessen Aufführung er am 7. Februar 2020 im musica-viva-Konzert mitwirkt.

Georg Nigl © Anita Schmid

Pia Steigerwald: Sie sind einer der gefragtesten Bariton-Sänger unserer Zeit, treten auf den wichtigsten nationalen und internationalen Opernbühnen und Festivals auf und widmen sich dabei einem breiten Repertoire von der Renaissance bis zur zeitgenössischen Musik. Sie waren Impulsgeber für Lied-Kompositionen von Friedrich Cerha, G.F. Haas, Olga Neuwirth, Wolfgang Mitterer. Mit Pascal Dusapin und Wolfgang Rihm verbindet Sie eine langjährige Zusammenarbeit…

Georg Nigl: Ich vergebe seit 2003 Aufträge an Komponistinnen und Komponisten. Die Liedkunst als solche ist im Kanon der Aufführungen in unseren Tagen ja etwas deplatziert worden. Lieder waren ursprünglich nicht für den Konzertsaal gedacht, sondern zur Erbauung der Menschen zu Hause. Auch heute ist das Liederabend-Publikum eher in sich geschlossen und sozialisiert über Aufführungen vergangener Tage und CD-Aufnahmen berühmter Interpret*innen wie Fischer-Dieskau oder Elisabeth Schwarzkopf. Das wiederum hat viel mit Geschmack zu tun. Als Kind besaß ich eine Aufnahme mit Theo Lingen von Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Mit 16 Jahren bin ich dann mit meiner Mutter das erste Mal in die Wiener Volksoper gegangen. (Mein Debüt als Sänger war dort allerdings schon mit acht!) Ich hatte also nie zuvor im Zuschauerraum gesessen, sondern immer selbst gesungen und gespielt. An diesem ersten Abend sang ein sehr bekannter österreichischer Kabarettist, Ossy Kolmann, die Partie, die ich eben mit Theo Lingen so gut kannte. Was war ich enttäuscht! Ossy Kolmann hat das Stück wahrscheinlich großartig gesungen, aber er sang es eben nicht wie Theo Lingen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, die Dichterliebe zu singen, ohne den Schatten Fritz Wunderlichs aus dem Publikum aufsteigen zu lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Zuhörer in meinem Konzert eher dann begeistert sind, wenn sie die Stücke nicht kennen.

Steigerwald: Wie muss eine Partie geschaffen sein, damit Sie sie gerne singen?

Nigl: Fokussierungen auf Stimmqualitäten im Operngesang haben mich nie interessiert. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, meine Stimme mit bestimmten Techniken „einzufärben“. Schwierig wird es für mich, wenn die Stimme als Teil eines Instrumentenapparates gesehen wird. Ich bin ein Erzähler. Ich gehe ins Theater, weil ich Geschichten hören möchte. Und ich erzähle selbst sehr gerne Geschichten.

Steigerwald: Wann kamen Sie zum ersten Mal mit dem Hohelied in Berührung?

Nigl: Das Jüdische ist extrem wichtig für mich, obwohl ich kein Jude bin. Als politisch und künstlerisch denkende Menschen sind wir in Mitteleuropa gespeist von dem Kulturgut der griechisch-römischen Antike und von der jüdischen Religion. Meine Lehrerin, Hilde Zadek, hat selbst den Holocaust miterlebt. Sie ist für mich unglaublich wichtig. Mit den Wiener Sängerknaben war ich das erste Mal in Israel. Wir waren auch in Yad Vashem. Mit ungefähr 18 Jahren habe ich dann angefangen die Bibel zu lesen. Eine großartige Literatur! Und dann kam ich zum Hohelied Salomos.

Für mich gehört das Hohelied zu den bedeutendsten Texten, die ich kenne. Er trägt eine unglaubliche Schönheit in sich.

Man kann ihn als religiösen Text aber auch als hocherotischen Liebestext zwischen zwei Menschen lesen. Eigentlich sind meine Aufträge an Komponisten genau daraus entstanden, nämlich aus dem Wunsch, das Hohelied Salomos vertont zu sehen.

Steigerwald: Wie kam Ihre jetzige Zusammenarbeit mit Matthias Pintscher zustande?

Nigl: Als wir im Januar 2019 die Oper Violetter Schnee von Beat Furrer in Berlin geprobt haben – es war meine erste konkrete praktische Zusammenarbeit mit Matthias Pintscher – sind wir auf das Hohelied Salomos gekommen. Es beschäftigte mich schon sehr lange Zeit und hat viel mit dem zu tun, was ich über Musik denke. Ich hätte Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe nicht gelesen, wenn ich nicht die Shirim gekannt hätte. Alleine durch die Trouvères bzw. Troubadours ist die Liebeslyrik zu einem wesentlichen Anteil unserer Arbeit als Sänger geworden. Als Matthias Pintscher mir mitteilte, er habe das Hohelied bereits vertont in den Songs of Solomons Garden und in Shirim für Bariton und Orchester, sagte ich ihm, dass ich genau das singen möchte. Und so ergab es sich dann auch, dass zusätzlich noch ein neues Werk entsteht für Bariton, Chor und Orchester – als Auftragswerk der musica viva.

Steigerwald: Wie studieren Sie das Hebräische ein?

Nigl: Phonetisch und mit einem Lehrer. Ich habe mit dem Kantor der Jüdischen Gemeinde in Wien Kontakt aufgenommen und lerne dadurch auch den Kantorengesang. Die gesamte abendländische Musik – wenn man sich beispielsweise den Barockgesang und die Verzierungskunst ansieht – kommt eigentlich aus dem Mittelmeerraum und diese ist auch heute noch in der arabischen Musik und der jüdischen Musik zu finden.

Steigerwald: Was ist das Besondere an der Musik Shirim?

Nigl: Diese Musik ist ganz klar aus dem Text heraus zu lesen. Es geht nicht darum, zu singen im Sinne von „Gesang“, sondern es geht um die Darstellung und die Übertragung eines Textes. Da ich die hebräische Sprache nicht spreche, muss ich mir alles wortwörtlich übersetzen, damit ich die Farben und die Worte gestalten kann, von denen ich singe. In Shirim I gibt es z.B. einen großen Ausbruch des Sängers, wenn es um die Töchter Jerusalems geht. Wenn man den Sinn dieser Szene nicht richtig verstehen würde, würde man die Passage sinnentfremdet wiedergeben. Da Pintschers Shirim-Musik aus dem Text heraus geboren ist, kommt es meinem Verständnis als Sänger sehr entgegen.

Steigerwald: Bariton und Orchester gehen einen Dialog miteinander ein. Im ersten Satz durchschneidet das Orchester förmlich die Passagen des Baritons, die Atmosphäre wirkt düster, beinahe bedrohlich.

Nigl: Ja, es hat durchaus etwas Bedrohliches, Düsteres – wie die Liebe ja auch sein kann.

Die Liebe ist vermutlich die erschütterndste Erfahrung, die man neben dem Tod machen kann.

Mein Sohn, der jetzt acht ist, sagte mir kürzlich: „Papa, kennst du das Gefühl, wenn man jemanden so lieb hat, dass es fast wehtut – so zieht im Herzen?“

Steigerwald: Es geht bei der Liebe natürlich immer auch um das Suchen, das Nicht-Finden, um Verunsicherung, Irritation, Brüchigkeit und Verletzlichkeit.

Nigl: Da sind wir bei Platon mit den Kugelmenschen, die auseinandergeschnitten sind und ihr Gegenüber suchen. Im Hohelied geht es für mich eher um die Vereinigung bzw. die Hoffnung, dass es die Vereinigung mit dem geliebten Menschen geben kann. Das wird dann ja auch Thema der Uraufführung Shir IV sein, die Vertonung des 3. Kapitels des Hoheliedes.

Steigerwald: Was ist das Besondere an Shir IV?

Nigl: Shir IV ist ein hochintimes Stück, obwohl es so groß besetzt ist mit Chor und Orchester. Sobald viele Menschen singen, bekommt alles natürlich nochmals eine ganz andere Farbe. Es gibt unglaublich wuchtige Textstellen, die auch in der Musik wuchtig sind. Daneben gibt es auch Flüsterpassagen. Und da sehe ich sehr starke Parallelen mit dem Kantorengesang und wenn ich es einordnen müsste, würde ich es im Barock bei Monteverdi einordnen.

Weitere Informationen zum Konzert am 7. Februar 2020 mit dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks finden Sie auf www.br-musica-viva.de


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