Komponisten & Werke
„Ich kann mir viel mutigere Themen erlauben“
Jüri Reinvere, dessen Komposition Vom Sterben der Sterne. Symphonische Notizen beim musica viva-Konzert am 12. November 2021 zur Uraufführung kommen wird, spricht im Interview mit Sibylle Kayser unter anderem über seine Herkunft, seine Musik als Handwerk und die Verbindung zwischen Titel und Musik.
Jüri Reinvere © Kaupo Kikkas
Herr Reinvere, Sie sind ein preisgekrönter Komponist, Ihre Arbeit als Publizist wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie stammen aus Estland und leben seit gut dreißig Jahren im europäischen Ausland, seit 2005 in Deutschland. Hat Ihre estnische Herkunft Sie in Bezug auf die Tatsache geprägt, dass man dort praktisch umgeben ist von fremden Sprachen?
Das kann man sagen, ja. Die kleinen Nationen müssen immer schauen, wie sie in der großen Welt zurechtkommen. Man kennt die anderen Kulturen und Sprachen ein bisschen, zumindest die der eigenen Nachbarn. Außerdem komme ich aus Tallin, das früher Reval hieß – und diese großartige Stadt hatte immer eine mehrsprachige Geschichte. Dazu kommt, dass meine Familie und meine Vorfahren unternehmungslustige Leute sind und waren, die in viele verschiedene Länger gingen.
Sie haben in Warschau und Helsinki Komposition studiert. Was ist Ihre Motivation, neben Ihrer Tätigkeit als Komponist auch publizistisch zu wirken?
Ich schreibe, um diese Vorurteile und wahnsinnigen politischen Ideen, die massiv in Europa lauern, durch meine eigenen Erfahrungen zumindest zum Teil zu demontieren. Weiterhin versuche ich, die Leute in Richtung Realität zu bewegen, und nicht in Richtung Sinnbilder und Irrealität, wie es leider momentan in den Medien und den Gesellschaften überhaupt geschieht. Die Freude ist natürlich sehr groß, wenn ich politisch etwas bewirken kann. Zum Beispiel, wenn das estnische Parlament am nächsten Tag stundenlang über meinen Artikel debattiert. Ich konnte auf die ein oder andere Entscheidung wirklich Einfluss nehmen. Immerhin habe ich für meine Veröffentlichungen eine bedeutende Auszeichnung bekommen, den Enn Soosaar Award, der heute Ethical Essayists Award heißt. Von daher haben sich meine Anstrengungen in diesem Bereich letztendlich auch gelohnt.
Wenn Sie zum Beispiel das Libretto für eine eigene Oper selbst auf Deutsch schreiben, wie zuletzt bei „Minona“, 2019 in Regensburg uraufgeführt – hilft Ihnen die Verwendung einer Fremdsprache vielleicht dabei, eine Art Distanz zum eigenen Kunstwerk zu wahren?
In einer Fremdsprache fühle ich nicht diese bleischweren, geschichtlich konnotierten Bedeutungsebenen. Das kommt auch daher, dass ich Musiker bin. Ich fing einfach an, auf Englisch zu dichten. (…) Mein großes Glück ist, dass ich so wechselfähig bin. Diese Eigenschaft haben die Schriftsteller nicht. (…) Mein Hintergrund als Musiker lässt mir da viel mehr Freiraum. Ich weiß, dass ich nicht perfekt sein muss.
Sie sagten einmal, dass die Tätigkeit als Organist, die Sie im Anschluss an Ihr Kompositionsstudium in Finnland ausübten, einen wichtigen Einfluss auf Ihre Selbstsicht als Künstler hatte, und auch darauf, wie Sie arbeiten.
Ja, es ist einer von drei wichtigen Faktoren in meinem Leben. Erstens: Ich bin in einem okkupierten Land aufgewachsen, in Sowjetestland. Ich habe erfahren, was es heißt, unter einer Diktatur zu leben. Der zweite wichtige Einfluss stammt von Ingmar Bergman und seiner Frau Käbi Laretei. Sie lehrten mich die Wichtigkeit der zentraleuropäischen Kultur, also die Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, dazu noch Tschechiens, weniger Frankreichs, noch weniger der USA. Und drittens: Meine Zeit in einem einfachen finnischen Pfarrhaus. Das Leben, die Sorgen und Probleme, aber auch die Freuden – diese grundlegenden Erfahrungen holten mich sehr schnell vom Elfenbeinturm des Kompositionsstudenten herunter. Das Orgelspiel beeinflusst auch die Machart meiner Kompositionen. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen meiner Orchestermusik und der Orgel.
Das glaube ich sofort. Ich habe mich mit einigen Ihrer Kompositionen beschäftigt und war beeindruckt von der glasklaren Durchhörbarkeit. Ihre Musik ist Handwerk vom Feinsten – können Sie das unterschreiben?
Vielen Dank! Meine Alma Mater ist die Sibelius Akademie in Helsinki. Dort war Handwerk das Wichtigste und alles darüber Hinausgehende – was Musik noch sein kann, wie das Metaphysische – damit sollten sich die Leute in ihrer Freizeit beschäftigen. (…) In Estland lernt man viel darüber, wie Inspiration sein soll, wie man mit der Musik religiöse Gefühle erweckt, aber nie: Wie machst du das. Und in Finnland war es genau das Gegenteil, da interessierten sich die Lehrer ausschließlich für das Wie. Zum Beispiel die Notation. (…) Wichtig ist, dass alles klar verständlich ist, dann haben die MusikerInnen auch Lust, das zu spielen. Dasselbe gilt auch für die DirigentInnen. Mit der Notation kannst Du den gesamten Interpretationsprozess unmerklich beeinflussen. Das betrifft auch den Satz oder die Phrasierung – überhaupt: die Klarheit beim Komponieren, das verdanke ich in erster Linie meiner Zeit in Helsinki.
Sie verwenden gerne sehr poetische Titel, wie: „Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen“, „Maria Anna, wach, im Nebenzimmer“ oder „Stern von Waltershausen“. Wie entstehen Ihre Titel und wie sehen Sie die Verbindung zwischen Titel und Musik?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche Titel existieren schon lange vor dem Werk. Andererseits sind einige Werke schon fertig, aber es gibt noch keinen Titel dazu. Generell mag ich es, wenn der Titel eine zusätzliche, eigenständige Aussage trifft. Was ich nicht möchte, ist, dass das Publikum in einer Komposition etwas sucht, was der Titel ankündigt, und es dann nicht findet. Das wäre nur frustrierend. Ein für mich geradezu idealer Titel ist „La Mer“ von Claude Debussy – mit diesem Titel wird das Publikum niemals enttäuscht sein. Aber so etwas geht heutzutage leider nicht mehr. (…)
Herr Reinvere, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde am 9. August 2021 in Frankfurt am Main geführt.
Das vollständige Interview mit Jüri Reinvere finden Sie im Programmheft des Konzerts am 12. November 2021.
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