Komponisten & Werke
INVENTIO - Oscar Bianchi über sein neues Werk
Das neue Werk „Inventio“ von Oscar Bianchi wird beim musica viva Konzert am 2.6.2017 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks uraufgeführt. Der Komponist spricht im Interview mit Barbara Eckle über sein neues Werk für Orchester.
„Bedeutungen entstehen erst durch Schwellen und Übergänge, ja durch Widerstände. […] Schwellen und Übergänge sind Zonen des Geheimnisses, der Ungewissheit, der Verwandlung, des Todes, der Furcht, aber auch die der Sehnsucht, der Hoffnung und des Erwartens. Ihre Negativität macht die Topologie der Passion aus.“
Byung-Chul Han
Barbara Eckle: Der Titel Ihres neuen Orchesterstücks lautet „Inventio“, das lateinische Wort für Erfindung. Beziehen Sie sich auf die ursprüngliche Wortbedeutung oder auf den musikalischen Begriff der „Invention“, wie man ihn aus der Musikgeschichte kennt?
Oscar Bianchi: Ich beziehe mich hier nicht auf die musikalische Form, sondern auf die Kunst der Rhetorik, die diesen Begriff ebenfalls verwendet. „Inventio“ ist der erste Teil eines Zyklus von Orchesterstücken, der von dieser Kunst inspiriert ist.
Eckle: Was bringt Sie dazu, sich mit Rhetorik zu beschäftigen und ihr einen so prominenten Platz in Ihrer Arbeit einzuräumen?
Bianchi: Ich glaube, dass es hilfreich sein könnte in der heutigen Zeit, die von großer Verwirrung und Distanzlosigkeit gezeichnet ist, eine Kunst ins Visier zu nehmen, die den klaren Blick schärft und die Fähigkeit ausbaut, stichhaltige und ausgereifte Konzepte und Argumente zu formulieren.
Eckle: Welche Rolle spielt der Begriff inventio innerhalb dieser Kunst?
Bianchi: Inventio ist der erste Teil der Rede, in der ein Redner seine Hauptthese exponiert, die er danach mit Argumenten festigt und weiter ausbaut.
Eckle: Wie schlägt sich dieser Vorgang in Ihrem musikalischen Konzept nieder?
Bianchi: In diesem Stück findet eine Erkundung musikalischer Elemente statt, die scheinbar weit hergeholten Quellen entspringen. Diese Klangelemente sind daher von sehr unterschiedlicher Bedeutung. Einige sind als Bedeutungsfeld zu verstehen, das durch das Überschreiten von Schwellen und Kreuzungen erkundet werden kann, im Sinne des Philosophen Byung-Chul Han. Es geht darum, verschiedene Elemente vollkommen unterschiedlicher Natur zusammenzufassen und aufeinandertreffen zu lassen. Man könnte sagen, es sind unterschiedliche oder gegensätzliche Bedeutungen. Ich verstehe das eher als unterschiedliche Bewusstseinszustände. Das Ziel ist, sie miteinander in Beziehung zu setzen, sie einander widerlegen zu lassen und sie zusammen einen Sinn schaffen zu lassen.
Eckle: Wie ist denn das Klangmaterial beschaffen, aus dem sich diese unterschiedlichen Elemente zusammensetzen?
Bianchi: Ich nenne es polyaktives Material, weil es so vielfältig ist. Es gibt relativ abstraktes, zeitvergessenes Material, es gibt aber auch konkreteres, resolutes Material mit einer großen Zeitsensibilität.
Eckle: Und wie lassen Sie diese unterschiedlichen Materialien nun interagieren im Sinne der Exposition einer Rede?
Bianchi: Die Hauptthese besteht sozusagen aus dieser geheimnisvollen Zone, die es zu erkunden gilt. Ich bringe musikalische Elemente, die semantisch stark aufgeladen sind und historische Bedeutungsschichten mit sich bringen, in den Dialog mit Elementen, deren Bedeutung erst entdeckt werden muss.
Eckle: Der Anfang ist also gar nicht von Klarheit geprägt. Sie wollen aber doch den Sinn für Klarheit schärfen. Wie geht das?
Bianchi: Man betritt einen Bereich, den man nicht sofort einschätzen und benennen kann. Das ist die Situation, in die ich den Hörer versetzen will, denn was nicht so leicht definierbar ist, erweckt Neugier und schärft die Wahrnehmung. Ich möchte, dass der Klang erlebt wird, ohne die Möglichkeit, sich durch Definitionen und Kategorien zu versichern.
Eckle: Das bedeutet also, dass die Fähigkeit zur Klarheit aus der Verwirrung heraus geschärft wird. Wussten Sie als Komponist im Vornherein, wie diese geheimnisvolle, paradoxe Klangsituation zu entwirren ist oder mussten Sie selber den Weg erst finden?
Bianchi: Ich glaube, dass diese Klangkräfte über mich hinausweisen. Im Arbeitsprozess habe ich mich mitten hinein begeben und versucht, mich ihnen ganz zu öffnen, um besser zu hören und besser zu verstehen, was von mir verlangt wird, was meine Rolle sein soll. In welche Dimension muss ich eintauchen, um alle diese eigenen Klangidentitäten in diesem Stück koexistieren und aufblühen zu lassen? Damit ich mich da hineinbegeben kann, darf ich im Vorfeld keine konkrete Vorstellung mitbringen, wie sich das Stück entwickeln sollte. So hat sich mir der architektonische Plan nach und nach mit der Entwicklung des Materials offenbart.
Eckle: Und worin besteht schließlich die „inventio“ im ursprünglichen Sinne des Findens und Erfindens?
Bianchi: Ich exponiere zwar ganz verschiedene Klangidentitäten, die von außen betrachtet verschiedenen Klangerzeugungsformen und Klangästhetiken angehören. Tief in ihrem Inneren aber haben sie etwas gemein, das sie verbindet. Das zu finden, ans Licht zu bringen und klar zu machen, ist die „inventio“, die ich mir zur Aufgabe gemacht habe.
Das Interview finden Sie auch in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks welche der Neuen Musikzeitung von Februar 2017 beilag.
Weitere Informationen zum Orchesterkonzert mit Johannes Kalitzke am 2.6.2017, Sie auf www.br-musica-viva.de.
Bitte beachten Sie, dass das Konzert wegen der allabendlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises am selben Tag bereits um 17 Uhr beginnt.
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