Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Stanley Dodds
Dienstag, 8. Dezember 2020 | Prinzregententheater München | 20.00 Uhr

Programm
wolfgang rihm [*1952]
Sphäre nach Studie [1993/2002]
für 6 Instrumentalisten
Stabat Mater [2020]
für Bariton und Viola
Kompositionsauftrag der Berliner Festspiele / Musikfest Berlin und der Stiftung Berliner Philharmoniker
Male über Male 2 [2000/2008]
für Klarinette und 9 Instrumentalisten
Mitwirkende
Christian Gerhaher, Bariton
Tabea Zimmermann, Viola
Tamara Stefanovich, Klavier
Jörg Widmann, Klarinette
Mitglieder des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks
Stanley Dodds, Leitung
Konzertvideo
Zum Programm
Wer trauert? Verkörpern die beiden einzigen Musiker*innen auf der Bühne – Bariton und Viola – in Wolfgang Rihms Vertonung des Stabat Mater die im Leben zurückgelassenen Menschen unter dem Kreuz, oder ist es Maria, die um ihren getöteten Sohn klagt wie im Motiv der Pietà? In der Reduktion auf die ungewöhnliche Konstellation von Streichinstrument und Stimme schafft Wolfgang Rihm einen kammermusikalischen Raum, in dem vieles, vielleicht alles möglich ist: vor allem das Singen, sei es wortlos oder instrumental. Entstanden ist das neue Werk für die Bratscherin Tabea Zimmermann und den Sänger Christian Gerhaher – zwei Interpreten, die mit der Musiksprache Wolfgang Rihms zutiefst vertraut sind. „Die Fläche des Singens zu befreien“, dieser scheinbare Widerspruch treibt auch die beiden das neue Werk flankierenden Instrumentalkompositionen Sphäre um Sphäre und Male über Male 2 an. Ihre Ursprünge liegen in Solostücken, die Wolfgang Rihm mehr als nur einmal übermalt und kommentiert hat. Darin schickt er das Klavier ebenso wie die hochvirtuose Klarinette auf Reisen durch neue Landschaften. Im Brennpunkt steht dabei immer ein wortloser Gesang, eine atmende Linie: in den instrumentalen Werken ebenso wie in der unmittelbaren Konfrontation des Baritons mit dem inneren Gesang der Viola.
Werkinformationen
Wer sich, und sei es noch so ziellos, durch die Werke von Wolfgang Rihm hört, wird unweigerlich alte Bekannte treffen. Das unermüdliche Wiedereintauchen in eigentlich beendete und keineswegs zurückgezogene Kompositionen gehört ebenso zur Praxis des 1952 geborenen Karlsruhers wie das konsequente Übermalen der eigenen Vergangenheit. Die Werke, die aus diesen Metamorphosen hervorgehen, sind inzwischen so zahlreich, dass es einfacher wäre, sein Werkverzeichnis wie ein Labyrinth – also dreidimensional – darzustellen, statt die Stücke chronologisch untereinander aufzulisten. Rihms Schaffen wuchert in alle Richtungen, es ist das vorläufige Ergebnis eines produktiven Zweifelns, das er selbst in Worte fasst: „Im Zweifel, der bei mir zum Ende einer Arbeit konstitutiv dazugehört, liegt der Keim zum Neubeginn; der Zweifel am Gelingen der Arbeit, die ich gerade abschließe, treibt mich in die nächste Arbeit, die dann gelingen möge, was wiederum der Zweifel in Frage stellt, der dadurch den Blick auf weiteren Anfang lenkt, immer in der Hoffnung, einem Gelingen nahezukommen, das, träte es ein, geflohen würde wie der Tod.“
Immer wieder führt die Sehnsucht nach dem unmöglichen Gelingen dazu, dass sich Wolfgang Rihm nicht nur in die nächste Arbeit stürzt, sondern den Blick auch zurück auf Bestehendes lenkt. Die Ensemblekomposition Sphäre nach Studie hat ihren Ursprung in einem fast zehn Jahre älteren Werk, dessen Titel sich, wie so oft, im Wortspiel des neuen Namens versteckt. Dieser Nukleus heißt Nachstudie (was den Verdacht nahe legt, dass auch dieser Studie etwas voraus geht) und ist ein Klaviersolo, in dem Wolfgang Rihm dem Nachhall von Klängen lauscht, die er asketisch in die Stille setzt. Den Akt dieses Tonsetzens vergleicht er immer wieder mit den Aktionen eines Bildenden Künstlers. „Oft empfinde ich den Akt der Zeichensetzung gar nicht so sehr auf ein Klangzeichen bezogen, vielmehr als Ausdruck räumlicher und farblicher Attacke auf eine Oberfläche“, kommentiert er die physische Arbeit am Material. „ Die plastische Vorstellung einer in die Zeit – als Dauer – gestellten Klanggestalt trifft auf die Vorstellung eines auf die Zeit – als einer Alt Malgrund – gesetzten Zeichens.“
In Sphäre nach Studie begegnet er den, von ihm selbst einst in die Zeit gesetzten Zeichen ein weiteres Mal. Und dabei sind und bleiben die Zeichen tatsächlich alte Bekannte, da das Original in und unter den Übermalungen unverändert erhalten bleibt. Wolfgang Rihm beschreibt die Fortspinnungen wie erneutes Eintauchen in alte Sphären. In diesem Fall weiten zwei Harfen, Schlagzeuge und zwei Kontrabässe den Raum des Klaviersolos, werfen Schatten, behaupten sich aber auch als eigene Lebewesen.
Martina Seeber
Es ist nicht das erste mal, dass Wolfgang Rihm sich das mittelalterliche Gedicht über die Schmerzensmutter Maria vornimmt. Für die Passionsstücke „Deus Passus“ für Mezzosopran, Alt, Harfe und Streicher hatte er sich für fünf der insgesamt 20 Strophen entschieden. Nun vertont er das gesamte Stabat Mater – und wählt dafür eine extrem reduzierte und zugleich ungewöhnliche Besetzung. Das Werk entstand für den Bariton Christian Gerhaher, für den er bereits den Tasso-Liederzyklus komponierte, sowie für Tabea Zimmermann. Für die Bratscherin schrieb er vor zwanzig Jahren das Violakonzert Über die Linie IV. Nun bringt die Solisten zusammen, lässt die Männerstimme den Text singen und legt der Bratscherin einen zweistimmigen Part vor, dem das Singen wortlos eingeschrieben ist.
Wolfgang Rihm schafft damit eine kammermusikalische Situation, in der die Trauer nicht vom Kollektiv des Orchesters aufgefangen wird, sondern schickt lediglich zwei Solisten auf die Bühne. Damit verschiebt sich der Fokus vom Gesellschaftlichen ins Private. Im Duo sind die Musiker ungeschützter, das Verhältnis zum Publikum intimer.
„Als stärkste formende Energie empfand ich immer den von Anfang an wirksamen, erst latenten, dann immer offener hervorbrechenden Erotismus dieses eigenartigen Textes“, beschreibt der Komponist sein Verhältnis zum ehemals liturgischen Gedicht, das „immer stärker ambivalent geladene Bereiche“ öffnet. Tatsächlich durchläuft das Stabat Mater eine geradlinige Entwicklung von der mitfühlenden Betrachtung in einen Zustand religiöser Extase und Verschmelzungssehnsucht. Der Wendepunkt vollzieht sich zu Beginn der 9. Strophe, wenn die Beobachtung direkte Ansprache umschlägt. „Laß, o Mutter, Quell der Liebe, laß die Fluth der heil‘gen Triebe strömen in mein Herz herab!“ fleht der Sprecher und behält den Imperativ bis zum Schluss bei. Wolfgang Rihm empfindet die Forderungen als distanzlos und damit befremdlich: „Fac, ut … – Mach, dass …, gesteigert sogar: Fac me… – Mach, dass ich…. Der Betrachter wird in seinen Fantasien geradezu übergriffig. Seine Meditation erreicht kritische Qualität. Dementsprechend ändert sich die Klangrede: vom zu Anfang eher berichtend objektiven Ton in eine subjektiv agitierende, direkte Anrede.“
In ihrer Klangrede ergänzen und vervielfachen sich die beiden Solisten: der Bariton als Verkünder des Texts und die Bratscherin als dunkel, nur innerlich singendes Alter Ego. Allerdings belässt es Wolfgang Rihm nicht bei diesem Dualismus. Fast durchweg spielt die Viola zweistimmig, in teils gleichgerichteten Bewegungen, teils in polyphonen Spaltungen, sodass das Duo faktisch dreistimmig und damit eigenartig gespalten ist.
Auf die Frage nach dem Verhältnis zu Pergolesis berühmten Stabat Mater mit seinen expressiven Sekundreibungen zwischen Sopran- und Altstimme antwortet Wolfgang Rihm: „Es gibt keine Ersatzstrategien: Vorhaltsbildungen und Sekundreibungen sind auch bei meinem Stück integraler Bestandteil der Harmonik. Natürlich war es für mich als Pubertierenden Pergolesis Stabat mater, das mir den unauslöschlichen Keim des sehnend Erotischen eingab. Solch ein Eindruck bleibt und fruchtet – und wenn es 53 Jahre später ist…“
Martina Seeber
1. Stabat mater dolorosa Iuxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius; |
1. Schaut die Mutter voller Schmerzen, wie sie mit zerrißnem Herzen unterm Kreuz des Sohnes steht; |
2. Cuius animam gementem, Contristantem et dolentem Pertransivit gladius. |
2. Ach! wie bangt ihr Herz, wie bricht es, da das Schwerdt des Weltgerichtes tief durch ihre Seele geht! |
3. O quam tristis et afflicta Fuit illa benedicta Mater unigeniti! |
3. O wie bittrer Qualen Beute ward die Hochgebenedeite Mutter des Gekreuzigten! |
4. Quae maerebat et dolebat, Et tremebat, cum videbat Nati poenas incliti. |
4. Wie die bange Seele lechzet! Wie sie zittert, wie sie ächzet, des Geliebten Pein zu sehn! |
5. Quis est homo, qui non fleret, Matrem Christi si videret In tanto supplicio? |
5. Wessen Auge kann der Zähren Bey dem Jammer sich erwehren, der die Mutter Christi drückt? |
6. Quis non posset contristari, Piam matrem contemplari Dolentem cum filio? |
6. Wer nicht innig sich betrüben, der die Mutter mit dem lieben Sohn in solcher Noth erblickt? |
7. Pro peccatis suae gentis Iesum vidit in tormentis Et flagellis subditum. |
7. Für die Sünden seiner Brüder, sieht sie, wie die zarten Glieder schwehrer Geisseln Wuth zerreißt: |
8. Vidit suum dulcem natum Morientem, desolatum, Cum emisit spiritum. |
8. Sieht den holden Sohn erblassen, Trostberaubt, von Gott verlassen, still verathmen seinen Geist. |
9. Eia, mater, fons amoris, Me sentire vim doloris Fac, ut tecum lugeam. |
9. Laß, o Mutter, Quell der Liebe, laß die Fluth der heil‘gen Triebe strömen in mein Herz herab! |
10. Fac, ut ardeat cor meum In amando Christum Deum, Ut sibi complaceam. |
10. Laß in Liebe mich entbrennen, ganz für den in Liebe brennen, Der für mich sein Leben gab. |
11. Sancta mater, illud agas, Crucifixi fige plagas Cordi meo valide. |
11. Drück, o Heilge, alle Wunden, die dein Sohn für mich empfunden, tief in meine Seele ein! |
12. Tui nati vulnerati, Iam dignati pro me pati, Poenas mecum divide. |
12. Laß in Reue mich zerfließen, mit ihm leiden, mit Ihm büßen, mit Ihm theilen jede Pein! |
13. Fac me vere tecum flere, Crucifixo condolere, Donec ego vixero. |
13. Laß mich herzlich mit dir weinen, mich durchs Kreuz mit Ihm vereinen, sterben all mein Lebenlang! |
14. Iuxta crucem tecum stare, Te libenter sociare In planctu desidero. |
14. Unterm Kreuz mit dir zu stehen, unverwandt hinauf zu sehen, sehn‘ ich mich aus Liebesdrang. |
15. Virgo virginum praeclara, Mihi iam non sis amara, Fac me tecum plangere. |
15. Gieb mir Theil an Christi Leiden, laß von aller Lust mich scheiden, die ihm diese Wunden schlug! |
16. Fac, ut portem Christi mortem, Passionis eius sortem Et plagas recolere. |
16. Auch ich will mir Wunden schlagen, will das Kreuz des Lammes tragen, welches meine Sünde trug. |
17. Fac me plagis vulnerari, Cruce hac inebriari Ob amorem filii. |
17. Laß, wenn meine Wunden fließen, liebestrunken mich genießen dieses tröstenden Gesichts! |
18. Inflammatus et accensus, Per te, virgo, sim defensus In die iudicii. |
18. Flammend noch vom heilgen Feuer, deck, o Jungfrau, mich dein Schleyer Einst am Tage des Gerichts! |
19. Fac me cruce custodiri, Morte Christi praemuniri, Confoveri gratia. |
19. Gegen aller Feinde Stürmen Laß mich Christi Kreuz beschirmen, sey die Gnade mein Panier! |
20. Quando corpus morietur, Fac ut anima donetur Paradisi gloriae. |
20. Deckt des Grabes düstre Höhle Meinen Leib, so nimm die Seele Auf ins Paradies zu dir! |
Dichtung aus dem 13. Jahrhundert | Übertragung Christoph Martin Wieland 1779 |
Latenter Eros
Max Nyffeler: Der Text ist ein Klassiker der katholischen Liturgie und stammt aus der Zeit des Franz von Assisi. Zahllose Komponisten haben sich auf ihn eingelassen. Was macht ihn so interessant für eine Vertonung?
Wolfgang Rihm: Ich sehe darin weniger einen Bestandteil der Liturgie (welcher eigentlich?) als eine Dichtung, einen subjektiv dichterisch gestalteten Betrachtungsmoment. Ein (wohl männlicher) Betrachter eines Bildwerks gibt sich seinen Gedanken und Fantasien hin.
Max Nyffeler: Das Stabat mater weist starke formale Ähnlichkeiten mit der ungefähr gleichzeitig entstandenen Sequenz des Dies irae auf. Beide haben dasselbe starre Versmaß und die gleiche Strophenform mit 2×3 Zeilen plus Endreim. Welche Möglichkeiten bietet dieser litaneihafte Charakter der Komposition?
Wolfgang Rihm: Sicher hat mich dieses „Litaneihafte“ am wenigsten interessiert. Ich folgte den emotionalen Kurven und Gestaltwechseln, die der Text offenlegt.
Max Nyffeler: Der emotionale Gehalt des Textes bildet einen krassen Gegensatz zur strengen Form. Was ist aus Ihrer Sicht die stärkere Kraft?
Wolfgang Rihm: Als stärkste formende Energie empfand ich immer den von Anfang an wirksamen, erst latenten, dann immer offener hervorbrechenden Erotismus dieses eigenartigen Textes. Er öffnet immer stärker ambivalent geladene Bereiche.
Max Nyffeler: Das Formschema der zehn Doppelstrophen mit den trochäischen Rhythmen und den Endreimen steht unverrückbar fest. Soll man sich ihm fügen oder dagegen ankomponieren?
Wolfgang Rihm: Ich folgte ganz dem Text, seinen Reizmarken, seinen Gehalt-Feldern. Nicht etwa, um deren Reizungen programmmusikalisch zu beantworten, sondern um individuelle Gegenbewegungen aufzuspüren: also, um dem Text einen Resonanzraum zu verschaffen, den ihn nicht nur verdoppelnd spiegelt.
Max Nyffeler: Nach der vierten Doppelstrophe gibt es im Text und in der Komposition einen deutlichen Einschnitt. Die subjektive, innere Bewegung nimmt überhand und überwuchert gleichsam das fixe Formschema.
Wolfgang Rihm: Es ist das Wörtchen „Eia“, das eine neue Dimension hereinreißt. Es spricht der Betrachter, er tritt in einen intimen Dialog mit der Mutter-Gestalt „Maria“. Das kleine Wort hat auffordernden Charakter, es gehört aber auch ins kindliche Repertoire, erinnert an Wiegenlieder etc. Sofort assoziieren wir die ausdruckshafte Nähe einer ihr Kind wiegenden Muttergestalt mit der hier ikonographisch noch gar nicht angesprochenen Figurenkonstellation der „Pietà“. Als würde diese spätere – also zukünftige – Figur auf die unter dem Kreuz stehende Mutter projiziert. Diese wird geradezu distanzlos angegangen: „Fac, ut …“ – „Mach, dass …“, gesteigert sogar: „Fac me…“ – Mach, dass ich…“. Der Betrachter wird in seinen Fantasien geradezu übergriffig. Seine Meditation erreicht kritische Qualität. Dementsprechend ändert sich die Klangrede: vom zu Anfang eher berichtend objektiven Ton in eine subjektiv agitierende, direkte Anrede.
Max Nyffeler: Das Stück beginnt und endet auf demselben Ton c‘, und nach der Erregungskurve im zweiten Teil folgt eine Beruhigung, was wie ein Gebet wirkt. Auffällig ist, dass in den letzten drei Zeilen, die als Coda dienen, der zuvor kunstvoll variierte Versrhythmus lang-kurz, lang-kurz nun praktisch nackt in Erscheinung tritt.
Wolfgang Rihm: Am Ende wollte ich eine Art „Absehen“ gestalten. Aus den vorher durchaus der Erregung entstammenden Figuren in ein unbewegtes, objektives und zuständliches Betrachten, als würde innegehalten und der Protagonist würde erwägen: er könnte zu weit gegangen sein. Das sollte in lakonischer Form geschehen, kein erneutes Erregen artikuliert sich. Daher die „geschlossene“ Prim im Gegensatz zur eröffnenden offenen“ Oktav des Beginns. „c“ ist also nicht gleich „c“.
Max Nyffeler: In seinem bis heute konkurrenzlos populären Stabat mater arbeitet Giovanni Battista Pergolesi zu Beginn mit den Sekundreibungen von Sopran- und Altstimme über dem Basso continuo und steigert damit die Expressivität bis zur Schmerzgrenze. Welche expressiven Ersatzstrategien gibt es mit nur einer Singstimme und einem Streichinstrument?
Wolfgang Rihm: Es gibt keine „Ersatzstrategien“: Vorhaltsbildungen und Sekundreibungen sind auch bei meinem Stück integraler Bestandteil der Harmonik. Natürlich war es für mich als Pubertierenden Pergolesis Stabat mater, das mir den unauslöschlichen Keim des sehrend Erotischen eingab. Solch ein Eindruck bleibt und fruchtet – und wenn es 53 Jahre später ist…
Max Nyffeler: Maria ist ein komplexer Charakter und in der katholischen Lehre eine der geheimnisvollsten Figuren. Sie hat Jesus als etwas ihr Fremdes, Unbegreifliches empfangen, und als Mutter betrauert sie ihn nun als ihr leibliches Kind, obwohl sie vermutlich ahnt, dass sie das Objekt eines göttlichen Plans ist. Spielen solche theologischen Gedanken bei der Komposition eines „Stabat mater“ eine Rolle? Oder steht hier Maria einfach als Allegorie für die Trauer einer Mutter um ihr Kind, für Leiden und Mitleiden ganz allgemein?
Wolfgang Rihm: Selbstverständlich wird die Arbeit an einem „Stabat mater“ vor allem durch diese komplexe Figur Maria inspiriert. In ihr zeigen sich Schichten der menschlichen Psyche bis in abgründige Bereiche – und es sind dabei, wie stets, nicht nur die Abgründe der Gestalt selbst, sondern auch die ihrer Gestalter/ und Betrachter/innen.
Max Nyffeler: Muss ein Komponist weibliche Gefühle kennen, um sich in diese trauernde Mutter hineinzuversetzen?
Wolfgang Rihm: Müssen muss man gar nichts, aber wenn man sich nicht absichtlich verschließt, kann man in seiner / oder ihrer Gestaltung die Fülle der menschenmöglichen Gefühlswerte wahrnehmen. Trotzdem hilft das wenig beim eigentlichen kompositorischen Geschehen. Noch soviel Empathie ersetzt nicht die Gefühlssicherheit beim künstlerischen Entscheiden – und diese fußt auf Intuition und Metier.
Max Nyffeler: Soweit ersichtlich hat noch keine Frau ein „Stabat mater“ komponiert. Woran könnte das liegen?
Wolfgang Rihm: Das weiß ich nicht.
Das Interview erfolgte in schriftlicher Form.
Es sind hauchfeine, wie mit spitzer Feder gezeichnete Töne, mit denen Wolfgang Rihm die Klarinette hier gleich zu Beginn in höchste Register schickt. Doch obwohl die Töne in dieser Höhe wie festgezurrt klingen, stürzt die Solomelodie immer wieder in die Tiefe. In seiner extremen Linienführung bedeutet Male über Male 2 eine virtuose Herausforderung für jeden Solisten. Die Klarinette übernimmt hier jedoch nicht die Rolle des Soloinstruments, das wie in einem Kammerkonzert einem kleinen, begleitenden Ensemble voransteht. Ihr Part bildet vielmehr den Kern und Gravitationspunkt einer Komposition, die sich aus ihrer Stimme heraus und um sie herum entwickelt. Tatsächlich führt dieser Nukleus auch als Solo bereits seit geraumer Zeit ein Eigenleben. Das im Jahr 2000 für seinen ehemaligen Kompositionsstudenten und Klarinettisten Jörg Widmann komponierte, viersätzige Solo trägt den Titel 4 Male. Zwei Mal hat es Wolfgang Rihm inzwischen über-malt, wobei das hinzugefügte Ensemble das Kernstück nicht übertüncht, sondern es gleichsam umkapselt.
Bei dieser Arbeit erlebt Rihm die musikalische Zeit, wie er selbst sagt, immer wieder neu: „Ich habe den Vergleich schon oft gebraucht, dass ich die Zeit wie eine Membran, wie einen Malgrund auffasse und darauf meine Musikschrift, die Klangzeichen auftrage. Da gibt es wie auf der Leinwand verschiedene Dichtegrade oder verschiedene Durchscheinungsgrade von Übermalungen, Farbkörper, Pastositäten.“
Der unveränderte Solopart ist nach der Übermalung von einer Instrumentalbesetzung umgeben, die mit Harfen, Klavier und Schlagzeug an die eigentümliche Klangwelt von Sphäre nach Studie erinnert, aber um Streicher (ohne Violinen) ergänzt wird. Seine Energie zieht das Ensemble aus der extrem verdichteten Klarinettenlinie. „Die Linie scheint mir gegenwärtig das schwierigste kompositorische Problem zu sein“, antwortete Wolfgang Rihm einmal auf die Frage eines Journalisten nach seiner musikalischen Sehnsucht. Dabei meidet der Komponist den Begriff der Melodie oder des Melos. An ihre Stelle tritt die eigentlich nicht hör- sondern sichtbare Linie. Rihm arbeitet mit der Spannung der Linie, biegt sie bis an die Belastungsgrenze. Die vielen Mikrointervalle und Glissandi erlebt Jörg Widmann in diesem Werk als untypisch für den Kosmos des ehemaligen Lehrers. Zugleich spürt er in der extremen Klarinettenlinie, die sich „zwischen der Stratosphäre und höllischen Tiefen“ bewegt, eine vokale Kraft.
Konzertfotos









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