Komponisten & Werke

Mob und digitale Bots

21.06.19 | Maria Luise Maintz

Über das Werden der Auftragskomposition "Speed of Truth" für Soloklarinette, Chor und Orchester. Ein Interview mit Miroslav Srnka.

Im Vorfeld des musica-viva-Orchesterkonzerts am 5. Juli 2019, bei dem Miroslav Srnkas Werk „Speed of Truth“ für Soloklarinette, Chor und Orchester uraufgeführt wird, sprach Maria Luise Maintz mit dem Komponisten über das Werden seiner Auftragskomposition.

Schon 2015 war Miroslav Srnka in der musica viva-Konzertreihe mit der Uraufführung seiner Moves beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu Gast. Im folgenden Januar wurde in München an der Bayerischen Staatsoper unter der Leitung von Kirill Petrenko seine große Oper South Pole uraufgeführt. In seiner neuen musica viva-Auftragsarbeit für den Klarinettisten Jörg Widmann, den Chor und das Symphonieorchester des BR und die Dirigentin Susanna Mälkki trifft eine sehr individuelle Besetzung aufeinander und eine besondere Musiker-Konstellation. Die Klarinette wird in der Musik der Vergangenheit oft als das Instrument behandelt, das der menschlichen Stimme am nächsten ist. In der neueren Musik mit den vielfältigsten Spieltechniken wird es zu einem der farbigsten, überraschendsten Klanggeber überhaupt: Jörg Widmann zählt zu ihren wichtigsten Interpreten. Zudem ist er auch Komponist und für Miroslav Srnka ein besonders inspirierender Solist seines neuen Werkes. Das Gespräch von Marie Luise Maintz mit dem Komponisten über das Werden seiner Auftragskomposition handelt vom »Schreiben« – dem Notieren, Konzipieren, aber auch Finden von neuen Wegen, den Klang zu fixieren.

Maintz: Das Textmaterial der Komposition „Speed of Truth“ sind fragmentierte Sätze über Wahrheit. Worum geht es in diesem Werk in Zeiten von Fake-News, manipulierten Daten und demaskierenden Videos?

Srnka: Das gegenwärtige, große Problem mit der Wahrheit hat sich mit den digitalen Medien verschärft. Ich wollte recherchieren, was Wahrheit im digitalen Raum heißen kann. Im Internet kursieren Mengen von geteilten Zitaten und Aphorismen über Wahrheit, von Aristoteles bis heute. Immer wird darin ein Aspekt beleuchtet. Es gibt manchmal sogar gegenteilige Zitate, die trotzdem beide etwas beleuchten. Ein Beispiel: “Die Wahrheit ist immer grau”. Und: “Die Wahrheit ist immer bunter…” Zugleich werden solche Zitate oft wichtigen historischen Figuren zugeschrieben, um vertrauenswürdig zu scheinen. Und dann gibt es Websites, die wiederum analysieren, von wem die Zitate wirklich stammen. Schon die ersten digitalen Quellen der “Wahrheiten über Wahrheit” sind von Unwahrheiten geprägt.

Die Wahrheit ­­als Forschungsthema ist oft durch ein Copyright geschützt – besonders in Form von neuen Ergebnissen, statistischen Daten und Abhandlungen. Zu den Lügen im digitalen Raum meldet sich aber selten jemand. Sie haben einen freieren Flug. Die Zitate – geschützt oder nicht, und nicht nur die über Wahrheit – haben im Internet ihr eigenes Biotop gefunden. Viele streng genommen geschützte Zitate, die jedoch oft sehr verkürzt und aus Kontext gerissen sind, werden [noch?] als Allgemeingut geduldet.

Es geht um Vertrauen. Zwischen Musikern untereinander und zwischen dem Podium und Zuschauerraum besteht auch eine Art von Vertrauen. Auf einem solchen “Vertrag” basiert die ganze Geschichte der Textvertonungen. Diese zu relativieren, ist meine Prämisse für diese Arbeit.

Maintz: Gibt es Wahrheit?

Srnka: Gäbe es darauf eine einfache Antwort, wären wir in der heutigen Welt nicht in einer solchen Misere. Oft höre ich: “Wir müssen die Wahrheit wiederherstellen.” Aber das ist doch niemals möglich. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Das Problem lässt sich nicht auf der Ebene lösen, wo es entstanden ist, so wird Einstein zitiert. Nostalgisches Zurückschauen bringt nichts. Wir müssen ganz neue Begriffe und Verständnisräume entwickeln.

Wahrheit hat so viele Definitionen in so vielen Kriterien. Wenn man eine einfache Internetrecherche unternimmt, stellt man fest, wie unbrauchbar komplex wissenschaftliche Definitionen von Wahrheit für das alltägliche und politische Leben sind. Es gibt einen Hunger nach Wahrheit, aber kein Interesse an der damit verbundenen Kompliziertheit der Frage. Vielleicht kursieren gerade deswegen so viele „einfache“ Zitate darüber.

Zugleich wird die Lüge dämonisiert. Wir alle lügen, x-mal täglich. Als Placebo etwa wird die Lüge zur Heilung benutzt. Verhaltensbiologen haben gezeigt, dass schon Tiere „lügen“…

Noch dazu vertauschen wir Wahrheit und Fakten. Mein Lieblingsbeispiel ist der Sportler Colin Kaepernick, ein Spieler des American Football: Er provozierte eine nationale Diskussion mit einer antirassistischen Protestaktion, als er sich bei der amerikanischen Hymne niederkniete. Danach postete er ein Zitat über Wahrheit und schrieb es Winston Churchill zu. Bei einem Faktencheck im Internet wurde anschließend geprüft, ob dieses Zitat wirklich von Churchill stammt, was nicht der Fall ist. Kaepernick wurde auf der binären Skala „true/false“ (wahr/falsch) als “false” eingestuft. Ich habe dieses Zitat übrigens in meinem Stück auch vertont…

Bestimmte Signale vermitteln mittlerweile, dass Klänge eine true/false Information tragen können. Man kann in der digitalen Klanglandschaft wunderbar beobachten, wie oft uns unsere Geräte, Computerspiele oder auch TV-Wettbewerbe durch spezifische Klangqualitäten eindeutig wissen lassen, ob wir in einem true oder false Zustand gelangt sind, wenn etwa in einem Spiel eine falsche Antwort durch einen entsprechenden Signalklang markiert wird.

Miroslav Srnka © Vojtech Havlik

Maintz: Was bedeutet das Arbeiten für Chor?

Srnka: Chor steht zwischen Musik und Semantik. Es gibt psychologische Tricks, die unser Vertrauen in das zerstören können, was Semantik und was Musik ist. Wenn man das Wort “Wahrheit” oft genug schnell nacheinander wiederholt, verliert man das Vertrauen in das Wort. Dies bezeichnet man als “Semantische Sättigung”. Oder wenn man einen kurzen Text oft genug exakt wiederholt, wird er in unserem Verständnis zu Musik. Das nennt man den “Speech-to-song“-Effekt. Das Mittel von Propaganda – also uns für eine “Wahrheit” zu gewinnen – ist auch stetige Wiederholung: die fortwährende Behauptung, dass etwas wahr sei.

Maintz: Also geht es auch um Täuschung?

Srnka: Wenn es keine Wahrheit mehr gibt, kann man kaum von Täuschung sprechen. Die Gesellschaft im digitalen Zeitalter entdeckt das über die Wahrheit, was kluge Menschen schon vor vielen Jahrhunderten darüber wussten. Die Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) haben im Jahre 2018 festgestellt, dass sich Lügen über Twitter schneller verbreiten als Wahrheiten, jedoch primär wegen Menschen, nicht wegen digitalen Bots. Dass Eile und Unsicherheit die Lüge fördern, schrieb schon Tacitus. Wir stehen also davor, die Wahrheit im digitalen Raum ganz neu zu definieren.

Maintz: Wie hast Du mit Jörg Widmann als Interpreten zusammengearbeitet?

Srnka: In der Vorbereitung haben wir uns mehrfach getroffen. Es war immer für uns beide spannend. Wenn Jörg, der Komponist, einiges über sein Instrument erklärt, schafft er es, in zwei Sätzen zu zeigen, was ganze Bücher – aus der Sicht des Instruments und des Instrumentalisten geschrieben – sonst nicht schaffen. Es ist das wahre Glück eines kompositorischen „Nerds“, am Schreibtisch einen Klang für ein Instrument, das ich selbst nicht spiele, “theoretisch” auszudenken, der mit dem Solisten dann tatsächlich funktioniert.

Maintz: Was ist für Dich das Besondere an der Klarinette, am Klang, an den spieltechnischen Möglichkeiten?

Srnka: Der Klang der Klarinette ist für dieses Stück ideal, weil er zwischen dem Instrumentalen und dem Vokalen steht. Jörgs technische Möglichkeiten reichen von einer phantastischen Kantilene bis zu einer musikalischen „Aussprache”, die an einige Worte erinnert. Zugleich ist er der ganzen Satzpalette fähig, von einer einstimmigen Melodie über einen wahren zweistimmigen Satz bis hin zu geräuschhaft komplexen Klängen, wo er innerhalb der Multiphonics, der Mehrklänge, unterschiedliche Spektrum-Register klanglich verschieden differenzieren kann.

Jörg Widmann © Marco Borggreve
Jörg Widmann

Maintz: Zum Vorgang des Komponierens und zum Entwickeln von Methoden: In den letzten Stücken hast Du mit neuartigen Formen von Notation gearbeitet, die dem Interpreten einen größeren Spielraum lassen. Ist dies auch hier der Fall?

Srnka: Bei diesem Stück frage ich mich immer wieder: Wie schaffe ich eine einheitliche Notation, so dass sie die fast unnotierbaren, lang geprobten Klänge der Soloklarinette beinhaltet, zugleich aber den Orchesterklarinettisten schnell und instinktiv verständlich ist? Wie notiere ich für den Chor die Konsonanten in dem Übergang zwischen beatbox-ähnlichen perkussiven Lauten, Sprechstimme und gestützt Gesungenem…

Und dennoch bleibt die Notation nur die Oberfläche. Die Substanz eines Stückes kann nie notiert werden. Diese fast absolute Sicherheit, beim Notieren scheitern zu müssen, macht die Suche so spannend und so endlos.

Maintz: Zwei Gruppen, ein Einzelner: Wie stehen Chor, Orchester und der Solist zueinander? Wie kam es zu der besonderen Symmetrie der Orchesterbesetzung in Vierergruppen?

Srnka: Das Orchester mag äußerlich wie eine scheinbar einheitliche Masse wirken, doch ist es im Innern in streng homogene Vierergruppen geteilt: 4 Klarinetten, 4 Akkordeons, 4-händige Klaviere, 4 Schlagzeuger, Streicher in 4-Vielfachen etc. etc. Alle sind mit der Solostimme klanglich verbunden, doch jede entwickelt den Klarinettenklang in eine andere Richtung. Ein Klangkörper, der in immer kleinere Teile untergliedert werden kann, in „Klangmeinungsgruppen“. Der Chor ist eine Spiegelung des Orchesters, mit diesem wie durch ein Prisma über den Solisten in der Mitte verbunden. Der Solist hat mit dem Chor eine größere Individualisierungskraft gemeinsam, mit dem Orchester wieder die abstrakte Klanglichkeit.

Das Orchester enthält absichtlich keine weiteren potenziellen Solisten. Ich verstehe in diesem „Ringen um Wahrheit“ die Choristen als einen Mob von Menschen, die Orchestermusiker stehen ihm wie digitale Bots gegenüber.

Um die Massenreaktion zu verstärken und eine Vervielfachung der musikalischen Information zu erreichen, habe ich die Instrumente und Stimmen basierend auf der geometrischen Zahlenreihe 1-2-4-8 etc. organisiert. Zugleich entspricht es einer harmonischen Grundlage des ganzen Stückes, die auf Reihen von Viererklängen basiert.

Maintz: Zwischen dem Wahren, dem Schönen und dem Guten wird in der Kunstauffassung des 18. und 19. Jahrhunderts gerne eine Beziehung hergestellt, also zu ästhetischen und ethischen Kategorien. Man könnte fragen, ob mit dem geschwundenen Vertrauen in die Wahrheit auch das in die Schönheit und die Sittlichkeit verloren ist. Am Schluss der Komposition steht: „Glaube die Hälfte von dem, was Du siehst, und nichts von dem, was Du hörst“. Ist das Ganze ein Kommentar zu einem unlösbaren Problem?

Srnka: Wir leben in einer Zeit, wo die ethischen und sprachlichen Implikationen der Wahrheit und der Lüge von verschiedensten Kulturen gemischt werden. Ein Zitat über Wahrheit durch Computer-Translator übersetzen zu lassen, enthüllt die Grenzen der Verständigung über die Wahrheit im globalen digitalen Raum.

Es interessiert mich gerade die Trennung dieser Kategorien. In der Kunst ist heutzutage klassische unkommentierte Schönheit verdächtig und wird oft als Kitsch beurteilt. Kein Wunder, denn gerade eine „schöne“ Erscheinung ist eines der Instrumente von Werbung und Propaganda. Ein weiteres ihrer Mittel ist die Wahl eines glaubwürdigen Vermittlers der Wahrheit. Gesunde Frühstücksmüsli werden in einer Werbung von gesunden Sportlern “besungen”. Wir wissen, welche Rekorde diese Sportler schon erreicht haben, also vertrauen wir ihnen auch in diesem ganz anderen Zusammenhang.

Mit dieser Rolle eines Vertrauensträgers ist auch die eines Solo-Sängers in einer Kantate zu vergleichen. Seine hervorragende Kunst ist ein Mittel, um das Vertrauen der Zuhörer zu gewinnen. Gelegentlich wird behauptet, dass in der Zeit des digitalen Konsums Wahrheit gegen Emotionen ausgetauscht wurde. Dies erscheint aus der Sicht der Musikgeschichte nicht ganz vollständig: Auch in den großen Kantaten- oder Oratorientexte der Vergangenheit findet man „Werbung“: aus heutiger Sicht – sehr nüchtern gesagt – enthalten sie oft Texte einer politischen oder religiösen Propaganda.

Dieses Phänomen versuche in meinem Stück auf die Situation des Solisten innerhalb eines instrumentalen Konzertes zu übertragen. Die Klarinette ist der Träger des musikalischen Vertrauens, und der Chor trägt das Semantische, also die Wortbedeutung der Texte. Das Orchester hat weder die eine, noch die andere Funktion, sondern vermittelt die Kraft einer Massenreaktion. Das Semantische und das intuitiv Vertraute, die Schönheit und die Wahrheit werden unabhängig voneinander behandelt.


Diesen Beitrag finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks, welche der Neuen Musikzeitung vom April 2019 beiliegt.

Weitere Informationen zum Konzert am 5. Juli 2019


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