Das Orchestre de la Suisse Romande

Botschafter aus dem Westen Helvetiens

»Die zweiten Geigen, würden Sie bitte auf ihrem C etwas mehr singen…?« Wer den 1968 verstorbenen Gründer und prägendsten Dirigenten des Orchestre de la Suisse Romande bei einer Probe mit seinen Musikern zuhörte, erlebte einen ausgesprochen musikalisch artikulierenden Menschen. Ernest Ansermet – ein schlanker Mann mit feinen Gesichtszügen und enormem Durchsetzungsvermögen – sprach mit singendem Tonfall. Seine Stimme wies dem Orchester den Weg. Höflich, präzise und je nach musikalischer Situation in der Lage, unmittelbar vom Lyrischen ins Soldatische zu wechseln, durch Höhen und Tiefen, immer aber formvollendet, elegant und bestimmt.

Ohne den 1883 geborenen Ernest Ansermet hätte es das Orchestre de la Suisse Romande nie gegeben. Nach einer Ausbildung zum Mathematiklehrer und drei aktiven Schuljahren in Lausanne entscheidet sich der frankophone Schweizer für seine Leidenschaft, die Musik. Wegweisend für ihn und sein späteres Orchester sind zwei Begegnungen im Jahr 1915. Erst trifft er Igor Strawinsky, dann den Leiter der legendären Ballets Russes Sergej Dhiagilev, der ihn für seine Kompanie als Dirigent verpflichtet. 1918, im selben Jahr, in dem er in Lausanne die Uraufführung von Strawinskys Histoire du Soldat dirigiert, sieht Ernest Ansermet schließlich die Zeit für ein eigenes Orchester gekommen. Am 30. November 1918 gibt er mit dem Orchestre Romand (damals noch ohne den Namenszusatz »Suisse«) das erste Konzert: mit Musik von Händel, Benner, Jacques-Dalcroze und Rimski-Korsakow. Im Jahr darauf widmet Strawinsky den frankophonen Schweizern die zweite Konzertsuite seines Ballets Der Feuervogel, die bis heute das Programm des OSR prägt.

Mit viel Energie und strategischer Planung gelingt es dem jungen Maestro, den neu gegründeten Klangkörper durch wirtschaftlich schwierige Zeiten steuern. Er versorgt die Großstädte Genf und Lausanne mit Sinfoniekonzerten, bespielt kleinere Gemeinden der Romandie von Fribourg über Biel und Montreux bis Vevey, initiiert eine langfristige Kooperation mit dem noch jungen Rundfunk und verankert das Orchester am Grand Thèatre de Genève. Als ein Seitenprojekt zur Finanzierung der notorisch knappen Sommermonate entwickelt er zudem ein Festivalkonzept: Die Gründung des Lucerne Festival 1938 ist mit Ernest Ansermet und dem Orchestre de la Suisse Romande verbunden.

Unter seiner Leitung profiliert sich der Klangkörper über Jahrzehnte hinweg vor allem mit Werken aus Frankreich, Russland und der Schweiz wie Arthur Honegger und Frank Martin. Nach dem Zweiten Weltkrieg steigt das OSR unter der Leitung von Ansermet in die Schallplattenproduktion ein und schließt einen Vertrag mit der Firma Decca. In der Viktoria Hall, einer der Heimspielstätten des OSR, richtet das Plattenlabel ein Tonstudio ein. Hier entsteht 1954 die erste kommerzielle Stereoproduktion in Europa. Die mehr 300 Schallplatten des OSR begründen den internationalen Ruf des Orchesters, dessen Geschicke Ansermet bis kurz vor seinem Tod leitet. 1967 folgt ihm Paul Kletzki, anschließend übernehmen das Amt Wolfgang Sawallisch und Horst Stein, die den Klangkörper allem über Aufführungen von Bruckner und Mahler auch für das deutsche Repertoire sensibilisieren. Fabio Luisi wiederum lenkt die Aufmerksamkeit auf die italienische Oper. Überhaupt gehört die Oper zu den Kernaufgaben der Romanden. Neben regelmäßigen Konzerten in der Genfer Viktoria Hall, im Théâtre de Beaulieu in Lausanne und Gastspielen in kleineren Städten nördlich des Genfer Sees ist das OSR auch das Hausorchester des Grand Théâtre de Genève. Und mit Jonathan Nott, der die Geschicke seit 2017 leitet, steht heute ein Dirigent an der Spitze des Klangkörpers, der die Begeisterung für das französische und deutsche Repertoire mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die Oper und die zeitgenössische Musikverbindet und die Überzeugung lebt, dass klassische Musik »für alle« sein soll. Deshalb geht er mit seinem Orchester nicht nur auf große Reisen, sondern bespielt auch im Sonnenuntergang die Strände des heimischen Sees und die Fußgängerzonen der französischsprachigen Schweiz.

Martina Seeber