Komponisten & Werke

Posthumane Welt

01.10.20 | musica viva

Die australische Komponistin Liza Lim setzt sich in ihrem Stück „Extinction Events and Dawn Chorus“ („Auslöschungsmomente und Morgendämmerungskonzert“) musikalisch mit dem Klimawandel, der Verschmutzung der Meere durch Plastik und dem Artensterben auseinander. Das musica-viva-Team sprach anlässlich der Aufführung des Werks am 2. Oktober 2020 mit ihr darüber.

Liza Lim © Astrid Ackermann

musica viva: Ihr Stück Extinction Events and Dawn Chorus handelt vom menschlichen Einfluss auf die Umwelt, genauer: von der Umweltverschmutzung durch Plastikmüll, der in den Ozeanen treibt. Wie sind Sie auf Umweltfragen gekommen?

Liza Lim: Das lief eher umgekehrt – die „Umweltfragen“ kamen zu mir. In den letzten Jahren ist uns Menschen immer bewusster geworden, wie stark wir in die Klimakrise verstrickt sind; wie unsere Plastiktüten und unser Müll an fernen Küsten angeschwemmt werden oder im Bauch der Walfische landen; wie unsere Alltagsaktivitäten Extremwetter, das Abschmelzen der Gletscher und die Lebenssituation von Menschen, Tieren, Pflanzen usw. in der ganzen Welt beeinflussen. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit in Australien, als wir auf dem Weg in den Familienurlaub ständig unsere Windschutzscheibe von Insekten säubern mussten; als riesige Wellensittichschwärme den Himmel bevölkerten und die Wasserläufe voller Frösche waren – eine summende, quakende, zwitschernde Gesangswelt, die heute viel leiser geworden ist.

Liza Lim © Astrid Ackermann

musica viva: Wie drücken Sie das in Ihrer Musik aus und welche Rolle spielen theatralische Elemente in Ihrem Stück?

Liza Lim: Durch mein Stück geistern die Gesänge verschiedener Lebewesen, zum Beispiel der transkribierte Gesang eines heute ausgestorbenen Vogels, des hawaiianischen Schuppenkehlmohos, der im ersten Satz nach dem Erscheinen des Plastiks zu hören ist. Im letzten Satz singt ein Chor von australischen Korallenfischen bei Tagesanbruch: Blechbläser und Schlagzeug spielen Basstöne, Geräusche und Rülpser (so klingen Fische tatsächlich!). Auch wenn man sich Plastik nicht als „Lebewesen“ vorstellt, erweist es sich bei näherer Betrachtung als eine sehr gefährliche und in der Welt sehr aktive Kraft. In meinem Stück erscheint es in Form eines Schlagzeuginstruments und in den kreisförmigen Wiederholungen und Bewegungen der Musik, die nachzeichnen, wie das Plastik durch die Umwelt tanzt. Die Zeit wird auf verschiedene Weise thematisiert, darunter auch in einigen melancholischeren Passagen. Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wird durch Elemente aus Janáčeks Klavierstück „Auf verwachsenem Pfade“ versinnbildlicht, auf denen die Harmonik des dritten Satzes („Autocorrect“) beruht. Im vierten Satz („Transmission“) erleben wir eine Art düsteres „Puppenspiel“, in dem eine Violine bzw. ein Geiger versucht, einer umfunktionierten Schnarrtrommel bzw. einem Trommelspieler das Singen beizubringen. Am Ende des Stücks spielt ein mit anderthalb Meter Plastikrohr verlängertes Kontraforte ein tiefes F – einen symbolischen 22-Hz-Ton, der an der Grenze des menschlichen Hörvermögens liegt und so auf eine posthumane Welt verweist.

Wenn ich sage „posthuman“, meine ich nicht, dass die Existenz des Menschen endet, sondern dass der Menschen nicht mehr der Mittelpunkt der Welt sein darf. Wir müssen intensiver erleben, wie radikal wir mit allen anderen Dingen verbunden sind und wie stark wir voneinander abhängen. Dass verleiht mir eine Art diffuse Hoffnung: Vielleicht haben wir bessere Überlebenschancen, wenn wir besser auf die Stimmen und Gesängen anderer Wesen hören.

Weitere Informationen zum Konzert am 2. Oktober 2020 um 18 Uhr mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks finden Sie auf www.br-musica-viva.de


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