Komponisten & Werke

SIEBECK GIBT DEN KAISER - Blicke in die Geschichte der musica viva

19.01.17 | Michael Zwenzner

Im Jahr 1969 kreuzten sich an einer Münchner Großbaustelle die Wege zweier deutscher Kritiker-Päpste. Beide 1928 geboren, nahmen sie später beruflich unterschiedliche Zünfte ins Visier. Wo sich Joachim Kaiser etwa musikalischen Zeitgenossen wie Karlheinz Stockhausen oder Michael Gielen widmete, kreisten Wolfram Siebecks Texte vor allem um die Kochkünste eines Paul Bocuse. Am 17. Januar 1969 jedoch nahm er sich seines schreibenden Kollegen an...

An jenem Tag erschien in der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel Musica viva eine kleine Glosse, in der Wolfram Siebeck – die charakteristische Diktion Joachim Kaisers aufgreifend – dessen einschlägige Musikrezensionen für die Süddeutsche Zeitung persiflierte. Im Jahr 1965 hatte – nicht zuletzt im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele 1972 – der Münchner U-Bahn-Bau begonnen. Inspiriert vom infernalischen Lärm der Baumaschinen, der in jenen Tagen des Jahres 1969 die Münchner Freiheit umtoste, vielleicht aber auch in Erinnerung an jüngste musica viva-Konzerterlebnisse (Ende 1968 waren Werke von Luis de Pablo, Milko Kelemen, Nicolaus A. Huber, Isang Yun und Karl Amadeus Hartmann zur Aufführung gekommen) formulierte Siebeck die gewissermaßen visionäre Rezension eines außergewöhnlichen Straßenkonzerts…

Dass John Cage zu jener Zeit längst den New Yorker Verkehrslärm zur Musik umzudeuten, der spätere musica viva-Befeuerer Josef Anton Riedl im olympischen Rahmen 1972 eine ganze Straße mit Klang-Aktionen jeglicher Art zu bespielen wusste, dass Komponisten wie Karlheinz Stockhausen (im 3. Akt aus MITTWOCH aus LICHT von 1995), Volker Heyn (in The Raven für Metallschrott, Umschlagbagger und Live-Elektronik von 1997-2000) oder Dror Feiler (in Müll für Orchester, Vokalperformance und Lärm-Zuspielungen von 2008) auch Hubschrauber, Bagger oder Müllwagen zu Instrumenten für ihre musikalischen Visionen erhoben, wird heutige musica viva-Konzertbesucher nicht mehr überraschen können. Auch 1969 zählte zu den Jahren bahnbrechender musikalischer Experimente und ästhetischer Grenzüberschreitungen. Dazu zählten unter anderem Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter, Luciano Berios Sinfonia, Iannis Xenakis‘ Ballett Kraanerg und Schlagsextett Persephassa, Cornelius Cardews The Great Learning, Nicolaus A. Hubers Versuch über Sprache, Mauricio Kagels Ein Aufnahmezustand, Helmut Lachenmanns Air, Alvin Luciers I Am Sitting in a Room, Bruno Madernas Serenata per un Satellite, Karlheinz Stockhausens Hymnen, James Tenneys For Ann (Rising) oder David Tudors Rainforest, um nur einige ikonische Werke dieses Jahres zu nennen. Trotz dieser enormen Bandbreite aktueller Musikproduktion: Mit überraschten Mienen seiner amüsierten Leser durfte Siebeck zur damaligen Zeit ohne Zweifel rechnen…

Wolfram Siebeck (Foto: Barbara Siebeck)
Wolfram Siebeck (Foto: Barbara Siebeck)

Lesen Sie Wolfram Siebecks Glosse von 1969 im digitalen Archiv der Wochenzeitung DIE ZEIT: http://www.zeit.de/1969/03/musica-viva


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