Komponisten & Werke
TEODOR CURRENTZIS – Ein Konzert mit Luciano Berios „Coro“
Für das „räsonanz“-Stifterkonzert am 1. April 2017 ist ein Programm mit Ausnahmewerken für Teodor Currentzis und seine Mitstreiter des Mahler Chamber Orchestra und dem MusicAeterna Choir aus Perm maßgeschneidert worden. Darunter ist Luciano Berios „Coro“, u.a. mit Versen von Pablo Neruda. Der Musikpublizist Michael Struck-Schloen zieht Verbindungen zwischen den Protagonisten.
Der bleiche Tag erscheint
Mit herzzerreißendem kalten Geruch
Mit seinen Kräften in Grau
Schon am Eingangstor zwang der Staat seine unbotmäßigen Untertanen in die Knie. In das Straflager „Perm-36“ musste man sich durch enge Gittertüren zwängen, bevor man seine Habseligkeiten abgeben musste. Beschreibungen von Alexander Solschenizyns Gulag-Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch kommen einem in den Sinn“, wenn man über das Gelände streift, das umgeben war von einem fünffachen Zaun, inklusive Selbstschussanlage. Ein gespenstischer Ort in einer Region am Ende Europas, kurz vor dem Ural, die zur Sowjetzeit übersät war von Lagern; die meisten wurden nach 1992 abgerissen. In der düsteren Breschnew-Ära wurde „Perm-36“ zu einem berüchtigten Lager für politische Häftlinge ausgebaut. Vielleicht kamen den Dichtern unter ihnen zuweilen die Zeilen des chilenischen Kollegen Pablo Neruda aus seiner frühen Gedichtsammlung „Residencia en la tierra“ (Aufenthalt auf Erden) in den Sinn.
Ohne Schellengeläut
Versprengt er das Dämmer
Nach allen Seiten
Mit einem Umkreis
Von Weinen
Luciano Berio lässt Nerudas totenbleiches Gedicht in seinem Werk „Coro“ von 1976 immer wieder zusammen mit schmerzlich aufheulenden Orchesterakkorden erscheinen – als erzählerische Klammer und mahnende Erinnerung an den gewaltsamen Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende. Auch die, denen der blutige Putsch im September 1973 und das folgende Terrorregime des Generals Pinochet keine Begriffe mehr sind, werden durch Berios Werk wieder auf das begangene Unrecht gestoßen: Musik wird Teil einer „Kultur der Erinnerung“, auch vierzig Jahre nach ihrer Entstehung. „Ursprünglich wollte ich ‚Coro‘ einen einfacheren Charakter geben“ berichtete Berio dem Schriftsteller Gastón Salvatore, der ihn auf seinem Anwesen in der Toskana besuchte. „Ich dachte an das Festival dell’Unità, an dem Menschen aus aller Welt teilnehmen. Eine Menge glücklicher, ehrlicher Gesichter, die viel reden, singen, tanzen, gemeinsam essen. Aber allmählich wurden die Stufen des Podiums in meinem Kopf zur Treppe in Eisensteins ‚Panzerkreuzer Potemkin‘. In gewissem Sinn ist ‚Coro‘ mein ‚Potemkin‘.“



Fragt ihr, warum dieses Gesicht
Uns nicht vom Traum spricht, von Blättern,
Von den großen Vulkanen der Heimat?
Kommt und seht das Blut auf den Straßen.
In der auseinandergebrochenen Sowjetunion hat die Erinnerung an das Blut auf den Straßen, vor allem aber an das in staatlichen Gefängnissen und Lagern vergossene Blut einen schweren Stand. Das bekamen auch die Mitarbeiter des Museums zu spüren, zu dem die Überreste von „Perm-36“ nach der Perestroika umgewandelt wurden. 2014 wurde dem privaten Trägerverein die Förderung der Regionalregierung gestrichen und die Museumsleitung ausgetauscht. Die Neukonzeption legt nicht mehr die perfiden Grausamkeiten des Archipel Gulag offen, sondern betont den „nützlichen“ Arbeitseinsatz der Häftlinge für Krieg und Wiederaufbau. „Wir haben heute das Problem, wie wir mit der jüngsten Geschichte der Sowjetunion umgehen sollen“, sagt eine ehemalige Mitarbeiterin. „Und das Leichteste ist immer das Vergessen.“
Es schwankt der Tag, umringt
von vielerlei Wesen und Weite
von jedem lebendigen Sein
bleibt eine Spur in der Atmosphäre
Auch diese Verse von Pablo Neruda hat Luciano Berio in „Coro“ vertont. Es ist ein Plädoyer dafür, die Vielfalt der Individuen, menschlichen Kulturen und Weltanschauungen zu achten und von ihnen zu lernen, ihre „Spur in der Atmosphäre“ zu verfolgen. Berio tut das in seinem Chor-Orchester-Stück auf beeindruckende Weise, indem er die klassische Aufstellung von Chor und Orchester aufbricht und so zu sagen „demokratisch“ durchmischt. Fast jedem Orchestermusiker ist eine Sängerin oder ein Sänger beigesellt. Sie singen Volksliedtexte aus Afrika, Peru, Kroatien, Indien, Italien – Texte von herber oder ekstatischer Poesie, die von der Übereinstimmung des Menschen mit der Natur, von der Liebe und der Arbeit erzählen. Im Spannungsfeld zwischen Nerudas Mahngedicht und den Episoden multikultureller Liebes- und Lebenspoesie entwickelt „Coro“ in seinen 31 Episoden die Utopie einer Erdbevölkerung, die sich in ihren Eigenheiten respektiert und gemeinsam gegen das Unrecht aufbegehrt. So wie es im Lied der nordamerikanischen Zuñi-Indianer heißt:
Kommt alle
Steigt alle herauf
kommt alle herein
Setzt euch alle
Einen weiteren Teil des Textes, der sich mit Currentzis in Perm beschäftigt, lesen Sie hier.
Das gesamte Essay von Michael Struck-Schloen finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks welche der Neuen Musikzeitung von Februar 2017 beiliegt.
Weitere Informationen zum räsonanz-Stifterkonzert am 1.4.2017 finden Sie auf www.br-musica-viva.de.
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Teodor Currentzis Wolfgang Rihm
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