Komponisten & Werke

TOUR DE FORCE DES VOLLKOMMENEN OHRES – Morton Feldman

08.01.18 | Morton Feldman

Am 26. Februar 1981 hielt Morton Feldman einen Vortrag am California Institute of the Arts: Nur das Ohr kann uns retten. Dabei sprach er über das Ohr, über Pierre Boulez, Paul Cézanne und Johann Sebastian Bach. Anlässlich des musica viva Orchesterkonzerts am 19.1.2018, bei dem Feldmans Oper „Neither“ präsentiert wird, veröffentlichen wir diesen Vortragstext hier im Blog.

„Es gibt keinen Unterschied zwischen mir und Boulez, keinen Unterschied! Er hat eine Million Dollar mit Peugeots­ gemacht, er wurde ein Peugeot-Magnat, und ich mache Sicherheitsnadeln, aber ich habe auch eine Million Dollar verdient. Es gibt absolut keinen Unterschied. Wir sind gleich. Wir stellen die gleiche Welt dar, genau wie Onassis … was für eine wunderbare Geschichte: Onassis wurde wegen eines phantastischen Steuertricks strafrechtlich verfolgt, und sie sagten zu ihm: „Herr Onassis, welche Flagge“ – ­­Sie verstehen, er fliegt herum – „unter welcher Flagge fliegen Sie?“ Und Onassis sagte: „Die Flagge?“ sagte er, „Die Flagge heißt Kapitalismus!“ Und in diesem Sinne ist die Flagge, unter der Boulez und ich segeln, im Wesentlichen die gleiche Flagge: Akustische Musik, und wie es klingt: Vergessen Sie das andere Zeug. Und es ist akustische Musik, über die ich spreche. Und die Haltung, die durch die verschiedenen Arten zu spielen entsteht. Ob es Bronisław Huberman ist mit seinen Portamenti im Tschaikowsky-Konzert oder ob es die Art ist, wie Rachmaninow seine Innenstimmen herausbringt, oder vielleicht war es die Art – es hatte nichts mit dem introvertierten Spiel von Fournier zu tun – sondern einfach die Art, wie er im Verhältnis zum Klavier auf der Bühne saß. Es ist die Welt, wie diese Sachen klingen, verstehen Sie. Die Vertrautheit mit dem Idiom. Das Idiom meint nicht unbedingt diese Art von Rollenspiel oder diese Art von totaler Darmstädter Flötenpower. Das ist es nicht, was ich mit Idiom meine. Ich frage nur, diese Flöte, was ist das? Okay. Das war also meine Zeit. Und es wird vorbei sein. Es wird vorbei sein. Es mag in der populären Musik erscheinen, aber in der populären Musik erscheint es auch mit Fokussierungen, die nichts mit Fokus zu tu haben, sondern tatsächlich eine Art von „Was wird diese Sauerei retten?“ sind. Was nicht das Gleiche wie Fokus ist. Unsere ganze Geschichte hindurch: Die Tonhöhe wird uns retten. Dann ging sie nach Deutschland, hatte eine Geschlechtsumwandlung, kam als Intervall zurück. (Gelächter) Und das Intervall wird uns retten. Das totale Darmstadt, und nach Darmstadt wird das Instrument uns retten. Harmonik wird uns retten. Polyphonie wird uns retten. Das ist kein Fokus. Nichts wird uns retten! (Gelächter)

Aber was uns rettet – und wen immer Sie in die OPEC aufnehmen wollen (Gelächter) – ist im Wesentlichen unser Ohr, das von Anfang an fokussiert ist. Oder lassen Sie es mich auf andere Weise sagen: Neulich in Buffalo habe ich ein Seminar gegeben. Glauben Sie es oder nicht, ich habe mich entschieden, das gesamte Semester Boulez zu behandeln, von seinen frühesten Stücken bis zu seinen neuesten. Weil Boulez, obwohl er nicht Cézanne ist, immerhin nachvollzieht, was Maler – und nicht nur schlaue Maler – bei Cézanne verstanden haben: Die Mehrdeutigkeit des Konzepts. Können Sie die Natur auf einen Körper in einem Kreis reduzieren? Können Sie sie irgendwie konzeptualisieren? Was für Anpassungen Sie vornehmen müssen. Und das Licht kommt dazu, so wie unsere Oldtimer, die Instrumente, dazukommen. Und diese ständige Anpassung, diese Angst, Cézanne ist ein Meister der Angst. Und das gleiche gilt für Boulez, denn ich glaube, Boulez spielt viele Probleme nach. Ich glaube, er möchte gerettet werden. Er will gerettet werden. Es gibt genug Formalisten. Er entwickelt sich. Er lebt die Probleme der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts aus, von 1950 an. Es ist nicht abgepackter Kram! Nun, was Boulez für mich rettet, ist sein Ohr. Und das zeigt sich schon in seiner frühesten Musik. Seine Sonatine für Flöte und Klavier ist ein Meisterwerk. Wenn Sie sich dieses Stück anhören, die Aggregate, die er aus der Reihe entwickelt, was meinen Sie? Sie verstehen, er hat die richtigen vier Noten! Und wie er damit umgeht und wo, und wohin er es dann legt, dieses Gefühl für Registrierung und Zeit, phantastisch! Wie er in einem Register bleibt für, sagen wir, vier Takte! Alles! Und die Balance! Es ist die Tour de force eines vollkommenen Ohres! Vergessen Sie den Verstand, der Verstand ist vorgegeben. […]

Aber wie unterrichtet man das Ohr? (leise) Ich bleibe in meinem Klassenzimmer wie ein Idiot (wieder normale Lautstärke): Hören Sie das, Sie sind dran! Gibt es so etwas wie ein Ohr für die richtige Bewegung, für das richtige Register? Ein Ohr, sich zur richtigen Zeit, mit der richtigen Note, dem richtigen Register, dem richtigen Instrument zu bewegen? Glauben Sie nicht, dass es das Ohr ist? Warum konnte Bach die Registrierung so einsetzen, dass er die gleiche gottverdammte alte Fuge auf eine Weise schrieb, wie niemand anders es konnte? Millionen von Fugen! Registrierung ist nicht das Ohr?“ Morton Feldman, 1981

Laura Aikin (c) Luigi Caputo

Laura Aikin singt die Titelpartie in Morton Feldmans „Neither“. Foto: Luigi Caputo

Diesen Text finden Sie in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks, welche der Neuen Musikzeitung von Dezember 2017 beiliegt. 

Weitere Informationen zum Orchesterkonzert am 19.1.2018 finden Sie auf www.br-musica-viva.de.


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