Komponisten & Werke

Tour de Trance

31.03.20 | Pia Steigerwald

Pia Steigerwald im Gespräch mit dem Komponisten Arnulf Herrmann über sein neues Stück für die musica viva geschriebenes Stück "Tour de Trance" für Orchester mit Sopran, Uraufführung am 29. Mai 2020.

Arnulf Herrmann © Soany Guigand

Pia Steigerwald: Derzeit schreiben Sie für die musica viva ein neues Werk für großes Orchester und Sopran mit dem Titel Tour de Trance, unter Verwendung eines Textes der Dichterin und Essayistin Monika Rinck. Woher kommt ihre Affinität zur Gegenwartslyrik?

Arnulf Herrmann: Das Interesse an Sprache in allen ihren Erscheinungsformen war eigentlich schon immer bei mir vorhanden. Im Vorfeld meiner Kammeroper Wasser habe ich dann um 2009 herum begonnen, mich intensiv mit zeitgenössischer Lyrik zu beschäftigen und bin dabei auf eine sehr reiche und lebendige Szene gestoßen. Das Libretto für die Kammeroper ist in der Folge ja auch gemeinsam mit dem Lyriker Nico Bleutge entstanden.

Pia Steigerwald: Das Gedicht Tour de Trance aus dem Lyrikband Vom Fernbleiben der Umarmung beschreibt einen Fluss von Vorgängen, die in gewisser Weise in ein formales Korsett, in eine Art dramaturgischen Ablauf eingebettet sind. Es schwankt zwischen Menschlichem und Wissenschaftlichem, zwischen messerscharf Präzisem und einem nebulösen, nur angedeutetem Zustand.

Arnulf Herrmann: Das ist schon eine gute Umschreibung dessen, was mich angezogen hat: Der Schwebezustand zwischen einer existentiellen und gleichzeitig abstrakten Schilderung sowie die vielfältigen Variationen z.B. Schwereempfindungen und Bewegungsformen. Das Gedicht spielt in einer Situation, in der zuvor scheinbar ein katastrophisches Ereignis stattgefunden hat. Monika Rinck findet die Mittel, um das, was zwischen der Katastrophe und dem finalen Stillstand passiert, sprachlich zu fassen. Die Vieldeutigkeit dieses Schwebezustandes, die Vielzahl der Perspektiven ist eine ästhetische Qualität, die es zu bewahren gilt.

Pia Steigerwald: Sprechen wir über die Komposition Tour de Trance für Orchester mit Sopran. Können Sie etwas zur Konzeption des Stückes sagen?

Arnulf Herrmann: Das Werk besteht aus vier Teilen, die aber untrennbar miteinander verbunden sind. Ich denke, in der Wahrnehmung der Zuhörer wird ein langer, etwas über dreißigminütiger Zusammenhang entstehen.

Pia Steigerwald: Sie verwenden im Untertitel bewusst die Formulierung Orchester mit Sopran.

Arnulf Herrmann: Die Stimme setzt tatsächlich erst im dritten Teil, der poisoning time heißt, ein, und wird dann allmählich in das Orchester hineingetragen.

Pia Steigerwald: In Ihren Erläuterungen für die Streicher erwähnen Sie eine „mehrfach auftretenden mikrotonalen Pendelfigur (Halbton mit vierteltöniger Nebennote)“. Was hat es damit auf sich?

Arnulf Herrmann: Die Pendelfigur habe ich in den Erläuterungen nur erwähnt, damit sie nicht unterschätzt wird. Ich beobachte oft die Tendenz, spieltechnisch einfache Figuren etwas auf die leichte Schulter zu nehmen. Ihr Charakter muss aber ganz präzise sein. Bei der Pendelfigur sind wir im Übrigen in der Nähe eines Beispiels für eine rhetorische Figur: Man befindet sich auf schwankendem Grund, sie erzeugt mit einfachen Mitteln Instabilität.
Schon im Triller der klassisch-romantischen Musik hat man eine interessante Doppelfunktion: zum einen die schnellstmögliche Bewegung zwischen zwei Tönen, die aber ab einem gewissen Punkt oder Geschwindigkeit in den Stillstand führt. Letzten Endes ist die Pendelfigur in meinem Stück eine umgedeutete Fortsetzung dieses Gedankens. Auch sie kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln.

Pia Steigerwald: Sie haben zwei Pauken besetzt mit aufwendigen Partien.

Arnulf Herrmann: Ja, das ist vor allem dem ersten Satz mit dem Titel manische Episode geschuldet, der in gewisser Weise ein Stück im Stück darstellt und auch einzeln aufgeführt werden kann. In ihm wird eine einzige Konstellation von Motiven immer weiter zerlegt, umgeschrieben und weitergetrieben. Die Musik rennt, bildlich gesprochen, wieder und wieder und mit zunehmender Intensität gegen eine unsichtbare Wand an. Hier spielen die Pauken eine große Rolle. Das ist für die Pauker vor allem eine Herausforderung im Sinne der Geschwindigkeit der Tonhöhenwechsel. Ich habe mich vorab mit zwei Orchesterpaukern zusammengesetzt und wir haben alle Passagen ausprobiert und auf ihre Machbarkeit überprüft. Das geht nicht allein am Schreibtisch.

Pia Steigerwald: Können Sie noch etwas näher ausführen, was die manische Episode mit Beethoven zu tun hat, auf den Sie ja verweisen?

Arnulf Herrmann: Jetzt sind wir wieder bei dem Phänomen der Erinnerung. Eingeschrieben in den ersten Satz – und in der Folge in die gesamte Tour de Trance – ist eine Erinnerungsspur an das Kopfmotiv der fünften Sinfonie Beethovens. Sie erscheint allerdings – obwohl im ersten Satz fast durchgehend vorhanden – nirgends als ein einfaches Motivzitat, sondern immer durch Anderes überlagert, eingebettet, wie eine Botschaft, die keinen einzelnen Urheber mehr besitzt. Die Spur wird im wörtlichen Sinn ununterbrochen verarbeitet und entbindet sich so in einem fortwährenden dynamischen Prozess schrittweise von ihrer Herkunft.

Pia Steigerwald: Die drei weiteren Sätze gehen dementsprechend in eine andere Richtung…

Arnulf Herrmann: Ja, und das allmähliche Wachstum in die übrigen Sätze hinein, bis hin zur Einbindung des Soprans in den letzten beiden Sätzen war für mich etwas Neues und eine ganz wunderbare Arbeitserfahrung. Während der Arbeit an der manischen Episode gab es durch den Gedanken der fortwährenden Transformation einer einzigen Motivkonstellation und der klaren Zielgerichtetheit des Satzes einen starken Impuls, das Stück weiterzuschreiben und die Struktur aufzubrechen, um mit einer stärker zerklüfteten, metaphorisch gesprochen dreidimensionalen Form voller Vor- und Rückbezüge das Stück weiterzuentwickeln und zusätzliche Facetten aufzuzeigen. Es gab gewissermaßen ein noch ungeöffnetes Zimmer hinter dem Stück, das mich dann ganz organisch zum Text von Monika Rinck und der Stimme von Anja Petersen geführt hat. Ich habe das schon früh im Kompositionsprozess gespürt und in der Folge dann ganz gezielt entwickelt.

Pia Steigerwald: Mit welchen Herausforderungen wird Anja Petersen zu tun haben bei der Einstudierung von Tour de Trance?

Arnulf Herrmann: Wenn ich für Stimme schreibe, gehe ich grundsätzlich immer vom gesungenen Ton aus. Ich finde die zeitgenössischen Erweiterungen der stimmlichen Möglichkeiten und Techniken faszinierend, doch für mich persönlich liegen bei der Suche nach einer eigenen Melodik, Rhythmik und auch Diktion die größten Herausforderungen. Das sind dann auch die Herausforderungen, mit denen sich Anja Petersen auseinandersetzen muss. Ich bin mir aber sicher, dass sie das alles problemlos meistern wird.

Pia Steigerwald: Was kann der Hörer erwarten bei der Uraufführung?

Arnulf Herrmann: Das ist schwer in einem Satz zu sagen. Im Idealfall das Gelingen eines Spagats: Intensität des Augenblicks und maximaler Beziehungsreichtum über den Augenblick hinaus.

Weitere Informationen zum Konzert am 29. Mai 2020 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks finden Sie auf www.br-musica-viva.de


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