Komponisten & Werke

UM ALTE ZÖPFE GEHT ES NICHT – Hans Thomalla über sein neues Werk

06.05.17 | Camilla Bork

Komponist Hans Thomalla und Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Camilla Bork gingen der Frage nach, in welchen Traditionen das Solokonzert steht und sprachen über Thomallas „Ballade“ für Klavier und Orchester, die der Pianist Nicolas Hodges mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Johannes Kalitzke am 2.6.2017 zur Uraufführung bringt.

Camilla Bork: Das Solokonzert lebt auch in der Avantgarde noch oft von der Spannung zwischen Virtuosität und eher thematischen Passagen. Welche Rolle spielt für dich diese Tradition?

Hans Thomalla: Meinem Konzert liegt ein längeres Klavierstück zugrunde, „Ballade.Rauschen“, das ich 2014 für Nicolas Hodges und die Wittener Tage für Neue Kammermusik geschrieben habe. Dieses Solo-Stück erkundet die Übergänge zwischen anonymen, etüdenhaften Skalen und individuellen Gestalten. Durch kleine Verletzungen und Brüche, aber auch durch kurze bewusste Abweichungen und Wiederholungen entstehen so etwas wie Charaktere, und im Verlauf des Stückes die Geschichte dieser Charaktere – daher auch der Titel „Ballade“. Über diesem Prozess schwebt jedoch ständig eine Bedrohung: eine Tendenz zur Auflösung von Individualität, zum Rauschen. Skalen in zu tiefen Registern zu schnell gespielt werden zum grummelnden Donner; Akkorde werden zu dicht und damit zu Clustern, die alle individuellen Gestalten auslöschen. Mir wurde schon in der Arbeit am Klavierstück deutlich, dass diese Tendenz zur Auslöschung orchestrale Züge hat. Es war mir wichtig, die Spannung zwischen Virtuosität und thematischen Passagen inhaltlich zu verstehen, nicht als bloßen „Zopf“ der Konzerttradition. Es ist eine Spannung, die zentral für meine Musik ist, und die ständig neu die Frage stellt: Was ist Subjekt? Wie behauptet es sich gegen einen fast ständig präsenten Drang zur Stereotypisierung? Und zugleich: Woher kommt die Sehnsucht nach „Rauschen“? Nach einer Oberfläche aus Skalenläufen, Pedalwolken, Cluster-Donner, in der sich alle Thematik verlieren kann?

Bork: Der Orchesterpart in deinem Konzert ist insgesamt sehr reduziert, oft ist das groß besetzte Orchester eine Art Echoraum für das Klavier. Wie siehst du das Verhältnis von Solist und Orchester?

Thomalla: Dein Begriff „Echoraum“ trifft es sehr gut. Es war ganz bewusst zu Beginn die Idee, die Konzertform in ihrem Anspruch zu reduzieren. Seit Beethoven ist das Konzert ja die Spielfläche für einen gleichberechtigten Diskurs zwischen Solist (Subjekt) und Orchester (Gesellschaft? Allgemeinheit?). Eine Form, die suggeriert, dass Orchester und Solist quasi chancengleich in einem freien Diskurs aufeinandertreffen, ist mir immer zutiefst suspekt gewesen. Daher bin ich in meiner „Ballade“ zuerst einmal hinter den Beethovenschen Konzertbegriff zurückgegangen: Das Orchester begleitet. Es vergrößert ein Subjekt, das schon selbst eine Tendenz zur geradezu manischen Selbstvergrößerung hat. Im Grunde ist ein moderner Konzertflügel ja ein größenwahnsinniges Instrument: Alle 88 Töne sind immer virtuell präsent, und das Pedal lässt sie als Resonanz mitschwingen. Das Orchester beginnt genau dort: bei dieser im Klavier selbst angelegten Vergrößerung, als Resonanz, als Echo. Auch die Bedrohung, die das Klavier in sich trägt – ein zu lang gedrücktes Pedal kann ja alle melodische Individualität im Rauschen ertränken –, setzt sich im Orchester fort. Aber es gibt natürlich auch Individuationsmomente, in denen sich einzelne Instrumente emanzipieren und mehr sind als nur Echo, und schließlich, kurz vor Schluss, wird das Klavier selbst zum Klangschatten des Orchesters.

Bork: „Ballade“ ist ja eigentlich ein erzählendes Klavierstück, inwiefern ist die Musik in deinem Konzert erzählend?

Thomalla: Ich denke, es wird deutlich, dass ich mit formalen Begriffen arbeite, die klare Parallelen zur Form der Erzählung haben: die Entstehung von Charakteren aus Brüchen, aus Reibung mit einem Umfeld, und die Entwicklung dieser Charaktere, aber auch die Situationen, in die sie geraten. In meiner „Ballade“ für Klavier und Orchester war mir daran gelegen, diesen narrativen Aspekt von Konzertmusik hervorzuheben: Es wird eine Geschichte erzählt. Es ist keine Programmmusik im direkten Sinn, denn die Geschichte ist erst einmal die Geschichte der Klänge und Klangfiguren selbst, ihrer Individuation, ihrer Gefährdung von Außen (aber auch von Innen: der eigenen Tendenz zum Rauschen), aber natürlich ist die Analogie zur Welt jenseits der Musik, zu meinen oder zu unseren Geschichten, unabweisbar.

Das Interview finden Sie auch in der Sonderveröffentlichung der musica viva des Bayerischen Rundfunks welche der Neuen Musikzeitung von Februar 2017 beilag.

Weitere Informationen zum Orchesterkonzert mit Johannes Kalitzke am 2.6.2017, Sie auf www.br-musica-viva.de.

Bitte beachten Sie, dass das Konzert wegen der allabendlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises am selben Tag bereits um 17.00 Uhr beginnt.


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