Musik, die wieder Musik sein will
Seinen Revolver packte er erstmals 2008 aus. Der „Bad Boy of Music“ wie er sich in Anlehnung an den berühmt-berüchtigten Composer-Performer Georges Antheil nannte, zielte in Zeitungskolumnen mit scharfen Worten auf alles „Unrecht, das geschah unter der Sonne“ und sorgte damit für einen Sturm im Reagenzglas der Musik. Nur wenig später verlagerte er seine Aktivität ins Internet und analysiert, kommentiert und parodiert seither mit einer Achtung gebietenden Stetigkeit alles was ihm vor die Flinte kommt: seien es neu entdeckte Lieblingsmusiker, unfassbare Entgleisungen großer Persönlichkeiten oder die haarsträubenden Fehler der amerikanischen Klassische-Musik-Soap „Mozart in the Jungle“. Es währte nicht lang, bis nicht nur Eingeweihte wussten, wer sich unter dem Alias „Bad Boy of Music“ zur Kenntlichkeit verbarg: Moritz Eggert. Virtuos betätigt Eggert nicht nur das „Hämmerklavier“ – wie einer seiner Konzertsaalhits lautet –, ebenso geläufig ist ihm die gesamte Klaviatur der sozialen Netzwerke. Auf Twitter kommentiert er schon einmal live ein ganzes Festkonzert und auf Youtube nimmt er seine Follower ganz selbstverständlich mit hinter die Kulissen seiner Theaterarbeiten mit so berühmten Regisseuren wie Jan Fabre, Claus Peymann oder Carlus Padrissa von „La Fura dels Baus“. Wer sich auf digitalen Kanälen der Künstlerpersönlichkeit Moritz Eggert nähert, findet neben der gesungenen „Ode an Twitter“ auch „die gemimte Konzertkritik“, „Bordell-Balladen“, Grass-Gedichte als „Chanson“, Feldforschungen auf dem Gebiet des „Neuen Deutschen Volksliedes“ oder auch einen Gangsterrap mit zugehörigem Videoclip, in dem er, untermalt von fetten Beats, umrahmt von schräg bekleideten „bitches“ den Kosmos der Neuen Musik – hier gebrandet als „Darmstadt-Style“ – mit knatternden Reimsalven abfeiert: „You assholes think that new music is just pop / If you hear the Darmstadt sound you never want to stop.“ Moritz Eggert benötigt keine vermittelnde Instanz, um den Sound und die Pose des Rappers adäquat zu imitieren: Er steht als Performer selbst dafür ein, mit Haut und Brusthaar.
Auch in MUZAK wird Moritz Eggert selbst auf der Bühne stehen und als „Composer-Performer“ sein Tongedicht über die musikalische Entfremdung selbst interpretieren. „Es ist mir lieber wenn ich bei Uraufführungen selber mitspiele, dann bin ich weniger nervös, weil ich mich auf meine Aufgabe konzentrieren muss und dann auch vergesse, dass ich das komponiert habe“, sagt er halb im Scherz. Und fügt an, wen er sich idealerweise als Stimmkünstler gewünscht hätte: „Helmut Lotti. Er hat vor einigen Jahren etwas sehr Mutiges getan. Während eines Schlagerkonzertes vor seinem üblichen Publikum hat er sein Toupet abgenommen und seinem Publikum gezeigt, wie er wirklich aussieht. Seither singt er nur noch, was ihn wirklich interessiert und es ist ihm egal, ob Publikum kommt oder nicht. Das verdient großen Respekt. Am Ende habe ich ihn nicht einmal gefragt, denn MUZAK hat sich in einer Weise entwickelt, dass ich mit jedem anderen Sänger wochenlang hätte arbeiten müssen, um ihm die gesuchten Nuancen zu vermitteln und beizubringen. Das wollte ich niemandem zumuten!“ Bei aller Koketterie, die man hinter solchen Aussagen vermuten mag, regt diese Einheit von Autor und Interpret zum Nachdenken über das Verhältnis von Authentitzität und Pose an, wie sie gerade die Popmusik in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neu und radikal verhandelt hat. „Auf der künstlerischen Seite von Pop ist Authentizität schon länger bankrott“, dekretierte der „Pop-Adorno“ Diedrich Diederichsen schon 1997. Die Feier der Oberfläche, die Verherrlichung der Pose wurde befeuert durch die empfundene „Wahrheit, dass es kein Dahinter gibt, das darstellbar wäre, keinen Zugriff auf das Reale durch Symbolisierung“, so Diederichsen.
Diese „popmoderne“ Verlusterfahrung steht am Anfang von MUZAK. „Jeder Mensch hat wahrscheinlich eine Art ‚Sehnsuchtsgedächtnis.’ Die Erinnerungen an Erfahrungen wie den ersten Kuss sind darin oft verknüpft mit musikalischen Erlebnissen. Klassische Musik oder zeitgenössische Musik spielen darin meist kaum mehr eine Rolle. Mit diesem Stück wollte ich dieses Terrain ein Stück weit zurück erobern“, so Moritz Eggert. Ein entscheidender Impuls zu seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit populären Stilen geht zurück auf die Recherchen zu einer seiner inzwischen dreizehn Opern. „Im Zusammenhang mit der Oper linkerhand habe ich mich durch ganze Archive mit DDR-Schlagern gehört und dabei entdeckt, was darin auch musikalisch interessant sein kann. Seitdem bin ich als Komponist bescheiden geworden. Man kann heute nicht mehr einen Stil über den anderen erheben, Musik befindet sich stets in einem Kontext der Kommunikation.“
In seinem emphatischen Eklektizismus und mit seiner mutwilligen Polystilistik dürfte der Höreindruck von Eggerts MUZAK stellenweise einem hektischen Radiosendersuchdauerlauf, einer kaputten Jukebox oder einer gehackten Playlist gleichen. Mag man es im ersten Moment für ein Liebesmusik-Hassstück halten, erweist es sich zwischendurch als ein Hassliebe-Musikstück und entpuppt sich am Ende vielleicht doch zuvorderst als gehässiges Musikliebestück. Eggert triggert zahlreiche Register unseres Musikgedächtnisses. Anders als beispielsweise Bernd Alois Zimmermann, der in seiner „pluralistischen Musik“ stets mit Zitaten arbeitete, spielt Eggert mit der Anverwandlung. „Es geht mir um den ‚Geschmack’ dieser Musik, der wie die Erinnerung an ein Essen zurückbleibt“, sagt Eggert. Hierin ist er vielleicht noch eher dem „Polystilisten“ Alfred Schnittke verwandt, dessen Stilamalgame anders als die Collagen Zimmermanns noch von der Hoffnung getragen waren, dass es ein einigendes Band, eine Identität geben könnte. „Für mich ist Kunst nur interessant, wenn man sich nackt der Begegnung mit dem Anderen aussetzt. Aber ich selber bin nicht das Thema, das wäre langweilig. Die Musik ist das Thema.“
Eggerts Widmung seiner Partitur an David Bowie macht MUZAK noch nicht zu einem „Requiem für einen alten Popstar“. Doch erinnert die Widmung daran, dass die Freiheit des Künstlers, sich selbst zu erfinden, längst zum Zwang für uns alle geworden ist. „David Bowie ist schuld“, schrieb der Kolumnist Klaus Walter in seinem Nachruf auf David Bowie. „Schuld daran, dass wir uns Tag für Tag neu erfinden müssen. Wer sich nicht alle drei Stunden neu erfindet, der verliert den Anschluss, der ist nicht konkurrenzfähig im neoliberalen Kreativhamsterrad. In den 1970er Jahren war das mit dem Sich-neu-Erfinden noch ein Versprechen auf Freiheit und Glück.“ Moritz Eggerts überspitztes Spiel mit Identitäten, wie er es in MUZAK anzettelt, könnte als Versuch gelesen werden, von der Pop-Musik etwas zurück zu gewinnen, was die Klassik stets für sich reklamiert, aber womöglich längst verloren hat. „Pop-Musik im emphatischen Sinne als eine experimentelle kritische Öffentlichkeit unterläuft die kulturelle Segregation in high und low immer wieder“, schreibt Diedrich Diederichsen. „Dabei entstehen auch jede Menge Monster und akuter Irrsinn. Aber solche Extravaganzen sind besser als die versteinerten Verhältnisse, in denen sich das Stahlbad des Fun und der Erbauung gegenüberstehen wie einst in Adenauers Abendland.“
Mehr Extravaganz schadet auch Merkels Morgenland nicht.
Patrick Hahn