Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten
Zur Uraufführung der Hymnen (Dritte Region) . Elektronische Musik mit Orchester
Ein sogenannter ‚arrivierter Künstler’ bin ich. Man sagt, ich gehöre zum Establishment und stehe deshalb ‚rechts’. Dummheit! Hat es alles nichts genützt, dass man meine Mutter von zu Hause fortholte, als ich kaum sprechen konnte, und sie später auf staatliche Verordnung hin umgebracht wurde, weil sie ein nutzloser Esser in Kriegszeit war? Dass mein Vater nach 6 Soldatenjahren den berühmten Heldentod starb? Dass ich als Kind von allen möglichen fremden Leuten geprügelt wurde, im Frontlazarett als 16jähriger die unmenschlichsten Grausamkeiten tagtäglich erlebte, das klägliche Sterben tausender Schwerverwundeter, Phosphorverbrannter, zerstückelter Leiber? Dass ich Jungen meines Alters, alte Männer, Zivilisten und sogenannte Deserteure an Telephondrähten aufgehängt sah? Jahrelang in Bombenkellern hockte, den Gestank von dreißig-, vierzig-, fünfzigtausend Leichen in den rasierten Zivilistenstädten einatmete? Als Knecht, Fabrikarbeiter, Kartoffeldieb, Kohlenklau, und dann 5 Jahre Nacht für Nacht als Barpianist bei Schwarzmarkthändlern und Besatzungssoldaten verbrachte? Dass ich seit dem Zweiten Weltkrieg die ekelhafte Restauration und Gefräßigkeit des Wirtschaftswunders, das große Vergessen, die Atombombenangst, Vertreibung, Folterung, Unterdrückung in den vielen kleineren Kriegen anderer Länder erlebte und ohnmächtig dagegen bin?
Arriviert? Etabliert? Zu was denn?!
In diesen Tagen las ich die Berichte über die Folterungen in Vietnam. Soll ich nach Amerika fahren, Musik für die Amerikaner machen? Was ändert es, wenn ich absage?
Meine Komposition Hymnen: ein weiteres Projekt einer Integration aller Rasse, aller Religionen, aller Nationen: es wird als dumme, ‚naive Utopie’ verdrängt, wie man in Deutschland mehrfach in den Zeitungen höhnisch geschrieben hat?
Glaubt denn jemand, ich sei ein Zyniker, ich hätte die Welt aufgegeben und mach meine Späßchen, indem zum Beispiel die amerikanische Hymne in der neuen Orchesterfassung der 3. Region – in ihrer Verbindung mit den Hymnen aller anderen Nationen – über den primitiven Zustand einer Collage hinausführen will zu einer Einheit, in der Haß aufgehoben ist, weil alle feindlichen Elemente miteinander vermittelt werden? Was kann ein Komponist besseres tun, als musikalische Welten zu schaffen, in denen nicht einfach die menschliche Welt von heute gespiegelt wird, wie sie ist, sondern die Projekte, Visionen von besseren Welten sind, in denen sich die Töne, die Fragmente, die ‚gefundenen Objekte’ vertragen und miteinander die eine, zusammenwachsende Welt und ihre göttliche Bestimmung realisieren? Wenn nur ein Hauch dessen gespürt, verstanden würde, wofür ich mich in den Hymnen hergebe, wäre dieses Werk sinnvoll. Ich mache mir keine Illusionen, die Kriege mit ihren Folterungen hörten morgen auf. …
Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten: ich habe Dir diese Musik auf den Leib geschrieben. Du könntest ein Modell für die ganze Welt werden, wenn Du so lebtest, wie diese Musik es ankündigt. Wenn Du ein gutes Beispiel gäbest…!
Im Auftrag des New York Philharmonic Orchestra habe ich von der Mitte der 2. Bis zum Ende der 3. Region eine Version der elektronischen Musik mit Orchester komponiert und als Dritte Region der Hymnen bezeichnet.
Karlheinz Stockhausen (1971)