„Eine Musik, die nichts fürchtet“

 

Pierre-Laurent Aimard über Karlheinz Stockhausens Klavierstücke I-XI

Der Musikpublizist Harald Eggebrecht hat den Pianisten Pierre-Laurent Aimard bei seinen Proben für die Klavierstücke I – XI von Karlheinz Stockhausen in Berlin besucht.

Harald Eggebrecht: Pierre-Laurent Aimard, zuerst denken viele an jenen Karlheinz Stockhausen, der mit dem siebentägigen Opernzyklus LICHT sogar die Zeit- und Aufwandsdimensionen von Richard Wagners Ring-Tetralogie übertroffen hat. Weniger präsent ist er als Schöpfer von Klaviermusik. Wann sind Sie das erste Mal damit in Berührung gekommen?

Pierre-Laurent Aimard: Das erste Mal war in Lyon bei einem Auftritt von Aloys Kontarsky. Es gab eine sehr gute Konzertreihe, in der viel Neue Musik geboten wurde. Ich war etwa acht Jahre alt. Ich hatte über Stockhausen viel von meiner ersten Klavierlehrerin Geneviève Lièvre gehört, einer sehr kultivierten Musikerin. Sie interessierte sich für Neue Musik, Musik der Welt, für Theater, Literatur und erzählte von den jungen Talenten in Lyon, zum Beispiel von Patrice Chereau. Aloys Kontarskys Spiel beeindruckte mich stark. Danach wollte ich mich unbedingt auch mit der Musik von Stockhausen beschäftigen.

Pierre-Laurent Aimard, Foto: Marco Borggreve

Eggebrecht: Haben Sie Stockhausen selbst kennengelernt?

Aimard: Ja, er kam zum Ensemble Intercontemporain und wir haben Inori unter seiner Leitung gespielt. Später habe ich für ihn das IX. und das XI. Klavierstück gespielt. Für das Fernsehen haben wir dann Kontrapunkte aufgenommen, das war eine Offenbarung. Er hat seine Musik auf besondere Weise dirigiert, er war mit keinem anderen Dirigenten vergleichbar. Ende der Achtzigerjahre war ich ein Teil von MONTAG aus LICHT, bei der konzertanten Uraufführung in Köln. Der Pianist spielt da links sieben, rechts elf und dirigiert mit dem Kopf einen Chor mit maskiertem Kopf. Inszeniert wurde es dann an der Mailänder Skala. Außerdem bot er mir ein großes Projekt an: alle Klavierstücke mit ihm für eine Tournee und eine Aufnahme zu präsentieren. Die Administration des Ensemble Intercontemporain, dessen Mitglied ich war, gab mich jedoch nicht frei. Ich habe überlegt, ob ich das Ensemble verlassen sollte für das Stockhausen- Projekt. Doch ich ermahnte mich, treu zu bleiben, aber ich war sehr betroffen. Daher freue ich mich umso mehr über das Projekt bei der musica viva in München, alle Klavierstücke von I bis XI, sowie Mantra und Kontakte aufzuführen. Die späteren Klavierstücke gehören in einen anderen Zusammenhang, in ein anderes Leben dieses Komponisten.

Eggebrecht: Die ersten vier Klavierstücke, 1952 entstanden, sind kurz, das dritte sogar extrem kurz. Wie geht man sie an?

Aimard: Man muss die jeweilige Kompositorische Herausforderung eines jeden Stückes erkennen. Das Klavierstück III ist so reduziert, fast noch wie bei Anton von Webern.

Eggebrecht: Stockhausen hat gesagt: Wer Bach, Beethoven und Chopin spielen kann, sollte auch diese Musik lesen und spielen können.

Aimard: Bei dem Klavierstück IV sieht man die systematische Arbeit mit den Registern, permanent kreuzen sich die zwei Linien dieser Polyphonie. Wie schafft man die spezifische Räumlichkeit? Es darf nicht nur punktuell klingen. Man muss diesen, gleichsam kollabierten, Raum darstellen. Bei Klavierstück II arbeitet er mit Lautstärken: Man muss diese genau realisieren und das Messen der Lautstärke bewältigen.

Die Klavierstücke sind meine Zeichnungen. Wer heute Klaviermusik komponiert, also die Möglichkeit eines Instruments, eines Spielers mit seinen 10 Fingern und 2 Füßen erforscht und erweitert, der wählt bewusst die Tugenden der Disziplin, Konzentration, Einfachheit, Subtilität.

Karlheinz Stockhausen (1969)

 

Eggebrecht: Wie erreicht man die Differenzierung von Lautstärken in raschem Tempo, damit nicht alles ähnlich klingt?

Aimard: Man spielt nicht nur mit verschiedenen Tonhöhen, sondern auch mit Parametern wie der Dynamik. Es ist eine andere Art des Musikmachens, man lernt, damit umzugehen. Wenn man sich intensiv mit Neuer Musik beschäftigt, hat man jeden Tag damit zu tun. Beim Wahrnehmen geht es auch um die Relation zwischen unterschiedlichen Lautstärken, die ja nicht auf Knopfdruck wie bei einer Maschine herauskommen. Vielmehr muss man den Zusammenhang beachten, damit es Sinn macht.

Eggebrecht: Sie haben davon gesprochen, dass Sie unter jeweils gegebenen Bedingungen musizieren. Das heißt, jede Aufführung ist in sich einmalig?

Aimard: Klar. Ich hatte das Privileg, Stockhausen mehrfach zu erleben als Dirigent, auch, etwa bei Mantra als Partner am Mischpult. Er hat die Räumlichkeit der Musik hergestellt, hat einen getragen, klanglich und zeitlich, man hat die Form des Stückes gespürt. In der Arbeit mit ihm war alles gleichsam blutig: Das heißt, das Strahlen des Klanges, jede Vibration, war unwiderstehlich, die Art diese Klänge zu binden, war nie abstrakt, immer phrasiert und melodisiert, aber nie banal.

Alles, was er konzipiert hat, war menschlich, gefühlt. Als ich als junger Mann Kontrapunkte mit ihm spielte, war ich natürlich bestens vorbereitet und dachte, man habe wie ein Soldat zu spielen. Doch er wollte alles gesungen, phrasiert, erlebt haben. Das war etwas ganz anderes, als nur die Noten auf dem Papier zu verwirklichen.

Eggebrecht: Gern werden Stockhausens Klavierstücke mit Beethoven kombiniert, eine „deutsche“ Linie?

Aimard: Diese Komponisten sind Brüder in ihrem Wunsch, den Klang neu zu definieren, in ihrem radikalen Gestus und in ihrer mutigen, groß dimensionierten Architektur.

Eggebrecht: Klavierstück VI hat Stockhausen vier Mal überarbeitet. Die erste, noch kurze Version hat er total verworfen.

Aimard: Ich werde Klavierstück VI zum ersten Mal in München spielen. Es geht um den Umgang mit dem Tempo. In jedem seiner Klavierstücke entfaltet Stockhausen eine neue Dimension. Er hat permanent, radikal und systematisch von Stück zu Stück experimentiert. Das Klavier bot dafür die flexibelste und „neutralste“ Art und Weise. Er hat sehr gut Klavier gespielt und hat für ein atmendes Klavier komponiert.

Eggebrecht: Er hat als junger Mann auch in einer Bar gespielt!

Aimard: Bei Klavierstück VI gibt es eine extra notierte Tempolinie, die grafisch eine permanente Änderung der Geschwindigkeit repräsentiert. Stockhausen war unglaublich feinfühlig mit den Tempi. Wenn er 81 vorgeschrieben hatte, und man spielte 82, hat er es sofort gemerkt und korrigiert. Er hörte Tempounterschiede wie richtige oder falsche Tonhöhen. Man kann das lernen, sich darauf einstellen und als geübter Musiker gut damit umgehen. Es gibt keinen gleichförmig buchstabierten Puls, sondern hier ist das Tempo ein in jedem Moment kontrolliertes Rubato. Das erscheint auf dem Papier höchst maschinell. Doch gespielt ergibt es einen Schwung, eine Phrasierung, und es ist ungeheuer lebendig!

Eggebrecht: War Stockhausen dogmatisch? Verschiedene akustische Bedingungen verlangen pragmatische Entscheidungen.

Aimard: Gewiss. Aber die rhythmische Phrasierung muss erhalten bleiben, auch wenn man der jeweiligen Akustik folgt. Stockhausen war einerseits die große Ordnung, andrerseits das Leben mit der Akustik der Klänge. Er hat sich selbst immer an die Bedingungen angepasst, etwa als wir bei Mantra tagelang an der Artikulation gearbeitet haben. Also wie jeder Musiker hat er auf die Akustik reagiert und dementsprechend gehandelt.

Eggebrecht: Wird in Klavierstück VI die Komplexität gesteigert gegenüber I bis IV?

Aimard: Komplex, aber nicht im Sinne von kompliziert. Es ist ein groß dimensioniertes, dabei sehr klares Stück. Natürlich ist es beim erstem Hören fremd, aber das legt sich, wenn man es besser kennt und merkt, wie stark diese Musik ist. In Klavierstück VII entwickelt er, wie Obertonresonanzen durch stumm angeschlagene Tasten entstehen. Er trennt die Komponenten Klang, Anschlag und Resonanz. Das weist auch auf seinen Umgang mit der Elektronik hin, wo er Klänge manipulieren kann, wie er will. Damit experimentiert er hier auf dem Klavier. Es wird ein Element seiner Musiksprache, hier, auch in VI und XI, reizt er es aus und nützt es in vielen späteren Stücken.

Eggebrecht: Ähneln sich die Klavierstücke oder sind sie ganz verschieden?

Aimard: Jedes ist ganz anders: nehmen wir zum Beispiel Klavierstück IX oder X, sie sind so radikal! Jedes der elf Klavierstücke hat seine Eigenartigkeiten und dadurch seine ureigene Gestik − sie sind unverwechselbar in der jeweiligen Architektur, im eigenen Bogen. Stockhausen integriert jedes Mal etwas Neues. Etwa die Repetitionen in Klavierstück IX könnten sehr banal werden, oder die Cluster in Klavierstück X billig wirken; aber sie definieren hier zunehmende Dichte.

Stockhausen im Jahr 1957 mit KLAVIERSTUCK XI

Eggebrecht: Stockhausen hat gesagt, man solle auch auf die Komposition der Pausen achten. Es sei unterschiedlich, ob Stille nach Fortissimo erfolgt oder aus dem Leisen kommt. Wie kann man den Eindruck des nur Punktuellen vermeiden?

Aimard: Man muss die Struktur des ganzen Stückes in sich haben und die Zeitmaße erleben. Die Pausen entspringen nicht einer Aktion, sondern sind genau proportioniert als Zeitmaß, der Form dienend. Er war ein riesiger Klangbaumeister, es war bezwingend, wenn man mit ihm musizierte: Kein Ton ist Einzelereignis, sondern gehört in den Gesamtbogen, hat also seinen definierten Platz im Zusammenhang, ist nie isoliert oder gar verloren.

Eggebrecht: Gibt es für Sie so etwas wie ein Lieblingsstück?

Aimard: Mich hat vor allem Klavierstück X überrascht. Vor dreißig Jahren habe ich es bloß oberflächlich gelernt, also habe ich es da nur sehr gestisch empfunden, und dabei kompositorisch schwer kontrollierbar. Nun mit viel mehr Erfahrung und Zeit, kann ich die Architektur ganz anders beobachten und messen. Es war wirklich ein Erlebnis, wieder mit dem Stück in Kontakt zu kommen. Es beeindruckt mich sehr, wie jede dieser Gesten ihren Sinn erfüllt und den richtigen Platz hat.

Eggebrecht: Geste ist neben Architektur eine wichtige Kategorie dieser Musik?

Aimard: Unbedingt, und manchmal sehr theatralisch! Er war Rheinländer . . .

Eggebrecht: Kölner noch dazu!

Aimard, lachend: Genau, er war so theatralisch! Die Wiederentdeckung von Klavierstück X hat mir gezeigt, dass ich nun Ordnung in meinem Leben schaffen kann mit diesen Stockhausen-Klavierstücken I bis XI. Ich habe viel mehr Erfahrung, mehr Ruhe, um dieses Projekt zu verwirklichen. Es ist für mich ein Erlebnis ersten Ranges. Es ist eine enorm kraftvolle Musik von unverkennbarer Identität.

Berlin, 2015

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