Mantra von Karlheinz Stockhausen

„Mantra“
Formplan und Skelett von Mantra für 2 Pianisten entstanden vom 1. Mai bis zum 20. Juni 1970 in Osaka, Japan… Das Werk ist vollkommen aus einer 13tönigen Formel, dem »Mantra«, entstanden.
Es gibt nichts anderes als ständige Reihungen dieses »Mantra« und Überlagerungen mit sich selbst, in 12 Formen von Spreizungen und 13 x 12 Transpositionen. ln 13 großen Zyklen nämlich, in denen jeweils ein Ton des »Mantra« selbst Zentralton ist, um den herum sich die Spreizungsformen bilden, wird jedesmal eine andere der 13 mantrischen Charakteristika dominierend.
Mantra ist also keine Variationsform. Das »Mantra« wird nicht variiert: es wird nicht ein einziger Ton hinzugefügt, es wird nichts ›begleitet‹, ausgeschmückt usw. Das »Mantra« bleibt immer es selbst und zeigt sich in seiner Zwölffältigkeit mit seinen 13 Charakteren. Die schnelle Stelle vor Schluß ist eine Stauchung des ganzen Werkes auf kleinstem Zeitraum: Alle Spreizungen und Transpositionen sind äußerst schnell in 4 Schichten zusammengefasst.
Die sogenannte Ringmodulation, die ich als technischen Prozess verwendet habe, ermöglicht ein neues System harmonischer Beziehungen. Es hat nämlich jeder der beiden Pianisten links neben sich ein Gerät, in dem ein Mikrophonverstärker, ein Kompressor, ein Filter, ein Ringmodulator, ein Sinusgenerator mit Skala und ein Lautstärkeregler eingebaut sind. Die Klavierklänge werden über zwei Mikrophone verstärkt und mit Sinusschwingungen ringmoduliert. Hinter jedem Klavier stehen in einigem Abstand Lautsprecher, die den modulierten Klang gleichzeitig zum gespielten Klang wiedergeben. Der modulierte Klang soll etwas lauter sein als der Original klang.
Jeder Pianist stellt in den 13 großen Zyklen des Werkes je einen Sinuston ein, der jeweils dem Zentralton entspricht, um den herum alle »Mantra«-Transformationen zentriert sind. Der 1. Pianist stellt die oberen 13 Töne des »Mantra« nacheinander ein, der 2. Pianist die unteren 13 Töne, also die der »Mantra«-Spiegelung. Jeder 1. und 13. Ton jeder »Mantra«-Wiederkehr sind also identisch mit dem ›spiegelnden‹ Sinuston und klingen daher ganz ›konsonant‹ und also ganz ›natürlich‹ wie Klaviertöne; und je nach der Intervallentfernung der übrigen »Mantra«-Töne von diesem ›Spiegelton‹ der Ringmodulation klingt der modulierte Klang mehr oder weniger ›dissonant‹ und im Spektrum klavierunähnlich (kleine Sekunden bzw. kleine Nonen und große Septimen erzeugen die ›dissonantesten› Modulatorklänge, Oktave und Quinte die ›konsonantesten‹). Dadurch spürt man ein ständiges harmonisches ›Atmen‹ von konsonanten zu dissonanten zu konsonanten Modulatorklängen durch die genau abgestimmten Verhältnisse zwischen den modulierenden Sinustönen und den modulierten Klaviertönen. Natürlich ist die einheitliche Konstruktion von Mantra eine musikalische Miniatur der einheitlichen Makro-Struktur des Kosmos, und sie ist ebenso eine Vergrößerung ins akustische Zeitfeld der einheitlichen Mikro-Struktur der harmonischen Schwingungen im Ton selber.
Karlheinz Stockhausen (1972)
„Permanente Durchführung“
Mantra ist für mich ein Schlüsselstück geworden. Von hier aus habe ich weit in die Vergangenheit begriffen. Die permanente Durchführung einer musikalischen Formel, also einer Gestalt aus individuellen Gestalten, ist hier beispielhaft und unumgänglich klar. Von daher erschließt sich plötzlich, dass „Durchführung“ ein zentrales Thema europäischer Musik war und ist. Woran man sie von Musik anderer Kulturkreise sofort unterscheidet. Ähnlich wie schon Bach und Beethoven ein Thema spreizten, stauchten, verkürzten und vergrößerten, spreizt, staucht, verkürzt und vergrößert Stockhausen hier sein Mantra, seine Formel, lässt er aus ihr die ganze Form entstehen, erreicht so die eigentliche Traumphase seriellen Komponierens: die Vielfalt aus der Einzelle, die Einheit von Mikro- und Makrostruktur. Die Setzung, deren Durchführung und die Form als Ergebnis, das ist die fast schon klassizistische Abfolge in einer schrittweise gedachten Genese, die keine einmal exponierte Einzelcharakteristik mehr ungenutzt lässt. Aus der Charakteristik jedes einzelnen Tons der Formel entsteht die Charakteristik einer ganz bestimmten Werkzone. Das ganze Werk entspricht also der in den Makrobereich gespreizten Mikrostruktur: der Ausgangsformel. Wir nehmen Musik wahr, voll inneren Halts, voller Präsenz und ohne Bindung an irgendwelchen „Stil“. Nichts ist vorgeprägt; wir sind dabei, wie Musik entsteht, Stufe um Stufe. Wir nehmen wahr … Uns wird das zunehmend bewusst: Es geht in dieser wachen Musik um Wahrheit. So gut es in Musik darum gehen kann.
Wolfgang Rihm (1978)