Karlheinz Stockhausen über sein Werk Hymnen:
„Nationalhymnen sind die bekannteste Musik, die man sich vorstellen kann. Jeder kennt die Hymne seines Landes und vielleicht noch einige andere, wenigstens deren Anfänge.
Integriert man bekannte Musik in eine Komposition unbekannter, neuer Musik, so kann man besonders gut hören, wie sie integriert wurde: untransformiert, mehr oder weniger transformiert, moduliert usw. Je selbstverständlicher das Was, um so aufmerksamer für das Wie.
Natürlich sind Nationalhymnen mehr als das: sie sind „geladen“ mit Zeit, mit Geschichte – mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie betonen die Subjektivität von Völkern in einer Zeit, in der Universalität allzu sehr mit Uniformität verwechselt wird…
Vielseitige Wechselwirkungen sind auskomponiert zwischen verschiedenen Hymnen untereinander sowie zwischen diesen Hymnen und neuen abstrakten Klangformen, für die wir keine Namen haben.
Zahlreiche Prozesse der Inter-Modulation sind in den Hymnen angewandt worden. Zum Beispiel wird der Rhythmus einer Hymne mit der Harmonik einer anderen Hymne, das Ergebnis mit der Lautstärkekurve einer dritten Hymne, dieses Ergebnis wiederum mit der Klangfarbenkonstellation und mit dem melodischen Verlauf elektronischer Klänge moduliert, und schließlich wird einem solchen Ereignis noch eine räumliche Bewegungsform aufgeprägt. Manchmal werden Teile einer Hymne roh, nahezu unmoduliert in die Umgebung elektronischer Klangereignisse eingelassen, manchmal führen Modulationen bis an die Grenze der Unkenntlichkeit. Dazwischen gibt es viele Grade, viele Stufen der Erkennbarkeit.
Außer den Nationalhymnen sind weitere „gefundene Objekte“ (object trouvés) verwendet worden: Sprachfetzen, Volksklänge, aufgenommene Gespräche, Ereignisse aus Kurzwellen-Empfängern, Aufnahmen von öffentlichen Veranstaltungen, Manifestationen, eine Schiffseinweihung, ein chinesischer Kaufladen, ein Staatsempfang usw.
Die großen Dimensionen in Zeit, Dynamik, Harmonik, Klangfarbe, räumlicher Bewegung, Gesamtdauer und die Offenheit der Komposition ergaben sich im Verlauf der Arbeit aus dem universalen Charakter des Materials und aus der Weite und Unbegrenztheit, die ich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Projekt – Vereinigung, Integration scheinbar beziehungsloser alter und neuer Phänomene – erfahren habe.
Die Komposition von so vielen Nationalhymnen zu einer gemeinsamen musikalischen Zeit- und Raumpolyphonie könnte die Einheit der Völker und Nationen in einer harmonischen Menschenfamilie als musikalische Vision erlebbar machen.“
Karlheinz Stockhausen (1968)