„Faites votre jeu, messieurs, dames, s’il vous plaît“

Zum Stockhausen-Festival der musica viva

Das Stockhausen Festival der musica viva besteht aus insgesamt 7 Konzerten, in denen Karlheinz Stockhausens Komposition Hymnen (3. Region). Elektronische Musik mit Orchester durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Eötvös, außerdem der Zyklus der Klavierstücke I bis XI, Mantra für 2 Pianisten und die Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug durch Pierre-Laurent Aimard (zusammen mit Tamara Stefanovich und Dirk Rothbrust) zur Aufführung kommen. Es ist das erste Mal, dass in München die Hymnen. Elektronische Musik mit Orchester aufgeführt werden. Und erstmals wird auch Pierre-Laurent Aimard den Katalog der Klavierwerke Stockhausens in seiner eigenen Interpretation der Öffentlichkeit – eine dem Münchner Publikum vorbehaltene Weltpremiere – vorstellen.

Entstanden in den Jahren 1952 bis 1961 zählen die Klavierstücke I-XI heute zu den Meilensteinen der Klaviermusik der Moderne und Avantgarde, sie umfassen die Möglichkeiten von der Miniatur bis zur großen Form. Sie sind Stockhausens paradigmatisches kompositorisches Statement für das kammermusikalische und solistische Spiel: „Wer heute Klaviermusik komponiert, also die Möglichkeit eines Instruments, eines Spielers mit seinen 10 Fingern und 2 Füßen erforscht und erweitert, der wählt bewusst die Tugenden der Disziplin, Konzentration, Einfachheit, Subtilität.“

Karlheinz Stockhausen im Studio für Elektronische Musik des WDR in Köln

Bereits Theodor W. Adorno vermutete in den Klavierstücken die Herausbildung einer neuen Art von ‚Durchführungskunst’ aus dem Geist der seriellen Musik, die einen Anschluss an die Tradition der Kammermusik und motivisch-thematischen Arbeit in Aussicht zu stellen schien. Die abendfüllende Komposition Mantra für 2 Pianisten, dieses ringmodulierte Zauberwesen motivisch-thematischer Kombinations- und Entfaltungskunst, sollte dann mit aller Konsequenz und Wucht einlösen, was der Philosoph mehr erahnte als zu wissen sich erlaubte.

Pierre-Laurent Aimard wird zusammen mit Tamara Stefanovich und Dirk Rothbrust diesen Weg durch den kammermusikalischen Kosmos Stockhausens, beginnend mit den ersten Klavierstücken aus dem Jahr 1952, über die extensiven Klavierstücke VI und X und den „Klassiker“ der Kontakte aus dem Jahre 1960, bis zur 1970 entstandenen Komposition Mantra, in drei Klavierabenden im Herkulessaal der Residenz und in der Großen Aula der Ludwig-Maximilans-Universität am 21., 22. und 24. Oktober 2015 ausschreiten und erlebbar werden lassen.

Erdglobus mit kyrillischer Schrift. Foto: Karl Günter Bose

Erdglobus mit kyrillischer Schrift. Foto: Karl Günter Bose

„Durchführung“ freilich, eines der zentralen Themen europäischer Musik, ist schon deutlich prägendes Prinzip der elektronischen Tonbandkomposition Hymnen, entstanden in den Jahren 1966 bis 1967 im legendären Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks: Wer das WAS kenne, so Stockhausen, könne die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung ganz auf das WIE der musikalischen Verwandlung konzentrieren. Und was gebe es Bekannteres als die Nationalhymnen der globalen Welt? Tatsächlich entführt Stockhausens elektronische Komposition Hymnen den Hörer in ein zweistündiges, aus den Nationalhymnen aller Länder geformtes kolossales Theatrum mundi. Die Musik ertönt unsichtbar aus den Lautsprechern, eröffnet vom Croupier des Weltenspiels: „Faites vôtre jeu, Messieurs, Dames, s’il vous plaît“. Gleich dem „bird’s eye view“ des Historikers Eric Hobsbawm, der am Ende des 20. Jahrhundert zusammenfassend noch einmal auf das vergangene Zeitalter zurückblickte, hört der Komponist bei seinem Höhenflug, was sein Ohr vernimmt. Aber dessen Höhenflug ereignete sich bereits während des Kalten Krieges, also inmitten des 20. Jahrhunderts, fünf Jahre nach dem Bau der Mauer und des ersten bemannten Raumflugs und zwei Jahre vor der ersten Mondlandung. Was dem Komponisten in der Einsamkeit des Alls der elektronischen Klangwelt von der Erde herauf entgegenschallt, wird ihm jedoch nicht Anlass zur Retrospektive, sondern zum Entwurf eines Kraft der Komposition musikalisch geeinten global village. Gegliedert ist dieses musikalische Theatrum mundi in vier Regionen, vergleichbar den „Sätzen“ einer Sinfonie oder den „Abteilungen“, wie Mahler seine Werke zu gliedern und verständlich zu machen suchte.

Als Stockhausen Ende der 60er Jahre auf Initiative von Leonard Bernstein von den New Yorker Philharmonikern ersucht wurde, für sie ein neues Werk für Orchester zu schreiben, entnahm der Komponist der elektronischen Hymnen-Komposition ihre 3. Region. Er kehrte den Spieß gleichsam um, und verwandelte die aus den Nationalhymnen gewonnenen elektronischen Klänge der ursprünglichen Tonbandkomposition erneut durch die Instrumentalklänge des live spielenden Orchesters und schuf so die Komposition Hymnen (Dritte Region). Elektronische Musik mit Orchester: „Amerika, Land der Flüchtlinge, der Vertriebenen, der Zusammengewürfelten: ich habe Dir diese Musik auf den Leib geschrieben.“

Stockhausen im Studio in Koeln 1967. Foto: Stockhausen-Stiftung für Musik

Hymnen (dritte Region). Elektronische Musik mit Orchester wird im Rahmen des Stockhausen-Festivals in zwei Konzerten, am 23. und 25. Oktober 2015 durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Eötvös aufgeführt. Entsprechend der Aufführungstradition der Hymnen mit Orchester, wird das Werk pro Konzert zweimal geboten, getrennt von einer Pause und der Aufführung des Klavierstück Nr. IX durch Pierre-Laurent Aimard.

Bereits Jean Paul wies, wenngleich für die Literatur, auf die Notwendigkeit einer solchen wiederholten Lektüre oder Aufführung hin: „Die Leser glauben immer, das, was sie in Einem Athem lesen, habe man in einem gemacht. … Was 5 mal geschrieben, 100 mal gedacht, sollte wenn nicht 1 mal doch 2 mal gelesen zu werden verlangt werden dürfen.“

Die elektronische Fassung der Hymnen mit allen vier Regionen erklingt in einer musica viva Late Night-Vorführung am 24. Oktober im Herkulessaal der Residenz, um 22.00 h. Die Klangregie führt Kathinka Pasveer.

Eine weitere Vorführung der Hymnen (dritte Region). Elektronische Musik mit Orchester findet am 25. Oktober in einer Sonntagsmatinee um 11.30 h, ebenfalls im Herkulessaal der Residenz, statt: Das Bayerische Landesjugendorchester stellt dann seine in der Orchesterakademie unter der Leitung von Peter Eötvös erarbeitete Interpretation der Hymnen vor.

 

 

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