Ensembles & Performer
FÜNF KOMPONISTEN – EIN STREICHQUARTETT
Das musica viva Wochenende vom 6. bis 8. Juli 2017 bietet dem Arditti Quartet ein Podium, um seine Vielseitigkeit und seine Einzigartigkeit zugleich zu zeigen. Es spielt in zwei Konzerten Werke von Andre, Birtwistle, Rihm, Sciarrino und Harvey. Michael Zwenzner sprach mit Lucas Fels, dem Cellisten des Quartetts.
Michael Zwenzner: Anders als Salvatore Sciarrino, der sich bereits seit jungen Jahren (mit bis heute neun hoch charakteristischen Beiträgen) der Gattung des Streichquartetts gewidmet hat und dessen jüngst vollendetes „Cosa resta“ – hier besetzungsmäßig um einen Countertenor erweitert – im Konzert am 6. Juli zur Uraufführung gelangen wird, nimmt sich Mark Andre dieser Gattung erst spät in seinem Leben an. Dies erstaunt einigermaßen, da er doch bereits viele eindrückliche Solo- und Ensemblewerke für Streicher komponiert hat. Wie kam es dazu, dass er diesen Auftrag annahm?
Lucas Fels: Wir haben ihn jahrelang dazu ermuntert. Er hatte aber einen immensen Respekt vor der Gattung, vor der Last des historischen Repertoires. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nach 1945 viele Komponisten kein Streichquartett geschrieben haben, da sie kein Interesse an dieser Verkörperung bourgeoiser Musikkultur hatten. Wenn manche Komponisten sich später trotzdem der Gattung gewidmet haben, war das sicher ein Verdienst einzelner Ensembles, wie dem LaSalle-Quartett oder – seit 1974 – hauptsächlich dem Arditti Quartet. Trotzdem gibt es auch heute noch Komponisten, die sagen: „Ich schreibe keine Sinfonie, keine Sonaten, warum sollte ich dann ein Streichquartett komponieren?“
Feinste Übergänge
Zwenzner: Hat Andre bereits etwas über den ideellen Hintergrund oder die musikalische Gestalt seiner „Miniaturen“ kundgetan?
Fels: Nein, bisher nicht. Es gibt bisher nur ein paar Termine, zu denen wir uns treffen und ein paar Dinge ausprobieren werden. Diese gemeinsame Arbeit ist bei Mark immer integrativer Bestandteil des Kompositionsprozesses. Nachdem ich bereits seit 25 Jahren Werke von ihm aufführe, gehe ich davon aus, dass es etwas völlig Eigenständiges wird. Da sein erstes Stück für die Besetzung, das er uns 2014 zum 40-jährigen Jubiläum geschenkt hat, eine Miniatur mit dem Titel „iv14a“ war, könnte ich mir vorstellen, dass das neue Stück ebenfalls zum „iv“-Komplex gehören wird. Auf jeden Fall plant er einen Zyklus von Miniaturen.
Zwenzner: „iv“ steht laut Andre für „Introversion“. Damit ist sicher ein charakteristisches Merkmal seiner Musik benannt, in der feinste Übergänge zwischen Laut und Stille gestaltet werden. Welche Eigenschaften seiner Musik sind für Sie besonders interessant?
Fels: Das bewegt sich auf vielen verschiedenen Ebenen. Eine davon ist natürlich die Ebene der Instrumentalbehandlung, mit der er zu einer völlig eigenen Sprache und neuen Art des Notierens gefunden hat. Dann gibt es den vielschichtigen Bezug seiner Tonsprache zu religiösen Inhalten, die bei ihm eine ganz große Rolle spielen. Marks besondere Geisteshaltung lässt sich von der Musik nicht trennen.
Musik aus der Seidenfabrik
Zwenzner: Harrison Birtwistles späte Annäherung an die Gattung verdankt sich weniger großem Respekt als spät einsetzendem Interesse. Was sind für Sie wichtige Merkmale des 2015 vollendeten „The Silk House Sequences“?
Fels: Dazu gehört der extrem rhythmische, bisweilen tänzerische Aspekt, der sicher aus der Bartók-Tradition kommt. In der Musik gibt es viele verschiedene Schichten, die er nebeneinander stellt, übereinander schichtet, ineinander schiebt; immer wieder tauchen plötzlich eigenständige, neue Dinge auf, die nicht dazuzugehören scheinen.
Besonders interessant am neuen Stück, das nach seinem Wohnhaus, einer alten Seidenfabrik, benannt ist, ist der reihende, sequenzhafte Aufbau. Wichtig war Birtwistle die Idee von Fragmenten, die nicht unbedingt miteinander zu tun haben, aber letztendlich doch Spannungsbögen ergeben. Dabei pendelt die Musik hin und her zwischen rhythmisch koordinierten und frei notierten Abschnitten. Da lotet er die Grenzen von Notation aus, sucht Lösungen dafür, etwas wiederholbar zu machen, das im Zusammenklang nicht exakt definiert ist.
Zwenzner: Von Wolfgang Rihm führen Sie das 13. Streichquartett auf, das er für das Arditti Quartet 2011 geschrieben hat.
Fels: Ein besonders wichtiger Aspekt für Rihms Komponieren ist, dass er für bestimmte Interpreten jeweils ganz eigene Musik erfindet, ausgehend von einer sehr klaren, physischen, haptischen Vorstellung der Personen, die das Stück aufführen werden. Das hat überhaupt nichts Anbiederndes oder Einschränkendes, im Gegenteil! Es geht ihm um eine Erweiterung seiner Sprache, seiner Palette, seiner Farben. Und mehr noch: Er komponiert nicht für die Musiker, wie sie sind, sondern er schreibt für sie, wie er sie sich vorstellt. Das ist etwas Großartiges und führt zu unglaublicher Intensität, weil er die Interpreten an Grenzen, an Orte führt, an denen sie noch nie waren, sie dabei oft auch überfordert, etwa in puncto Spieltechnik oder Ausdauer.

Zwenzner: Jonathan Harvey nimmt in der Musikgeschichte Großbritanniens eine Art Zwischenposition ein: Einerseits war er aufs Engste mit den kontinentalen Avantgarden verbunden, andererseits ist er – etwa mit seiner Chormusik – tief in der englischen Musiktradition verwurzelt. In Deutschland wurde seine Musik erst in seinen letzten Lebensjahren verstärkt wahrgenommen. Welche Erinnerungen haben sie an ihn und wie war die Zusammenarbeit?
Fels: Sehr, sehr intensiv. Wir haben alle seine Quartette und das Trio für CD produziert. Diese gemeinsame Woche mit Harvey im Baden-Badener Studio war wirklich eine wunderbare Zeit. Ich habe selten einen so freundlichen, strahlenden und herzlichen Menschen getroffen wie ihn. Er wusste sehr genau, was er wollte – zumal er selbst ein sehr guter Cellist war. Trotzdem hat er seinen Musikern immer große Freiräume gelassen. Er hatte eine unglaubliche Großzügigkeit, Geduld und große, gelebte Weisheit.
Zwenzner: Alle vier Quartette, die seit 1977 im Abstand von etwa zehn Jahren entstanden sind, wurden durch das Arditti Quartet uraufgeführt. Wie kam es zu dieser langen Liaison?
Fels: Das erste Quartett Harveys ist überhaupt das erste, das eigens für das Arditti Quartet entstanden ist und zwar auf eigene Initiative des Komponisten. Das war Irvine Arditti und seinen Kollegen damals natürlich sehr willkommen, da man nicht dabei stehen bleiben konnte, die oftmals für das LaSalle Quartett entstandenen Werke etwa Ligetis oder Lutoslawskis aufzuführen. Seit dieser Zeit gab es eine enge künstlerische Beziehung zu Harvey. Somit ist es auch längst überfällig, dass wir nun in München erstmals alle vier Quartette gemeinsam aufführen.
Authentizität
Zwenzner: Was verbindet diese Werke miteinander, was unterscheidet sie?
Fels: Ein hervorstechendes Merkmal liegt im starken Fokus auf der Melodie, die bei ihm immer Ausdrucksträger spiritueller Ideen ist. In dieser Hinsicht ist er sicher auch von seinem einstigen Lehrer Karlheinz Stockhausen beeinflusst.
Ich glaube nicht, dass es in den Quartetten eine radikale oder sprunghafte Entwicklung gibt. Was mich anspricht an seiner Musik, ist dieses unglaublich Authentische. Es gibt da keine Spur von „Ich will jetzt neue Musik schreiben oder mich in irgendeiner Weise behaupten“. Er hatte zwar ein immenses Wissen, auf der anderen Seite aber lebte er Bescheidenheit, Toleranz, Gelassenheit.
Zwenzner: Wie bei Andre kann man im Schaffen Harveys eine intensive Beschäftigung mit religiösen Themen erkennen. Wie macht sich das bemerkbar?
Fels: Bei vielen Komponisten religiöser Musik werden oftmals aus der Tradition stammende Floskeln, Harmonien oder Formmodelle verwendet, um Religiöses auszudrücken. Das tut Harvey sicher nicht. Seine Musik bedient religiöse Topoi nicht, sondern sollte eher als Ausdruck einer spirituellen Praxis verstanden werden, die in der musikalischen Umsetzung letztlich künstlerische Autonomie erzielt.
Zwenzner: Bereits in den 1980er Jahren hatte Jonathan Harvey am Pariser IRCAM bahnbrechende Werke mit Elektronik komponiert. Auf welche Weise kommt diese Dimension in seinem 4. Streichquartett zum Einsatz?
Fels: Einerseits wird der Instrumentalklang äußerst behutsam und organisch erweitert. So wurden keine Klänge vorproduziert, sondern alles basiert auf von uns live gespielten rhythmischen Patterns oder Abschnitten, die dann in verfremdeter Form sehr genau und präzise wieder zugespielt werden, worauf wir wiederum exakt reagieren müssen.
Die Live-Elektronik öffnet in vielfacher Hinsicht den Raum. Die Decke, der Himmel öffnet sich …
Weitere Informationen zum musica viva Wochenende am 6.-8. Juli 2017 und den Streichquartetten finden Sie auf www.br-musica-viva.de.
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