Komponisten & Werke
GEORGES APERGHIS - „Eine Art verstecktes, heimliches Theater“
Der musica viva Konzertabend am 17.3.2018 steht unter dem Motto "Portrait Georges Aperghis". Das Konzert beginnt mit älteren Werken von Aperghis aus den Jahren 1978 bis 2006, in kleiner, intimer Besetzungen, gefolgt von der Uraufführung des Werkes „Intermezzi“ für großes Ensemble. Martina Seeber sprach vorab mit dem Komponisten.
Foto: Georges Aperghis (c) Astrid Ackermann
Martina Seeber: Herr Aperghis, Ihr Werkkatalog, der 1970 beginnt, ist von Kammermusik geprägt. In der langen Liste finden sich nur sechs Werke für großes Orchester, das Musiktheater schon eingerechnet. Warum spielt die Kammermusik in Ihrem Schaffen eine so große Rolle?
Georges Aperghis: Es gibt so eine kleine Familie von Musikern um mich herum, für die ich komponiere. Ich schreibe Kammermusik zwar manchmal auch im Auftrag von Konzertveranstaltern, aber meist habe ich selbst eine Idee und fange an zu arbeiten. Die Vertrautheit und Nähe zu bestimmten Musikern wie dem Klarinettisten Michel Portal oder dem Schlagzeuger Jean-Pierre Drouet war und ist für mich essentiell. Aus dieser Intimität entsteht viel. Sie ist wie eine Quelle.
Außerdem stelle ich die musikalischen Fragen, die in meinem Kopf herumschwirren, gerne immer wieder aufs Neue. Wenn ich dabei an die Musiker und ihre Persönlichkeiten denke, ist es so, als würde ich meine Gedanken durch ein Prisma schicken. Sie werden gebrochen und umgeleitet.
Seeber: Nehmen wir „A bout de bras“ für Oboe und Klarinette. Das ist eine ausgesprochen seltene und vor allem sehr spezielle Kombination.
Aperghis: „A bout de bras“ ist 1989 für den Oboisten Jean-Claude Magloire entstanden, der auch eine Karriere als Dirigent von Barockmusik gemacht hat, und für den Klarinettisten Michel Portal, der im Jazz und in der Klassik zu Hause ist. Es war ein sonderbarer Auftrag, für diese beiden sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten zu komponieren.
Das Duo, das ich geschrieben habe, ist sehr wild geworden, eigentlich ein wildes Fest. Die beiden Bläser spielen immer im Fortissimo und in der hohen Lage. Sie spielen permanente Alarmsignale.
Seeber: In den fünf Minuten, die „A bout de bras“ dauert, durchläuft das Duo keine Entwicklung, es evoziert einen Zustand. Zwischen den hohen Tönen entstehen Reibungen, Schwebungen und Kombinationstöne. Sind sie mitkomponiert oder zufällige Nebenprodukte?
Aperghis: Das ist Absicht. Das Stück basiert auf den Schwebungen, die entstehen, wenn sich die Obertöne der beiden Instrumente mischen. Wenn alles gut geht, entsteht daraus ein dritter Ton. Das hängt aber sehr von der Akustik des Raums ab. Wenn es funktioniert, klingt es überraschend. Wie ein drittes Instrument.
Seeber: Der Klarinettist muss auch in sein Instrument singen. Auf mich wirkt es, als wolle jemand etwas mitteilen, wird aber daran gehindert.
Aperghis: Wenn man in die Klarinette gleichzeitig bläst und singt, entsteht ein ganz anderer Klang. Die Farbe ändert sich. Für mich ist das ein musikalischer Charakter und nicht theatralisch gedacht. Beim Hören kann aber natürlich schon der Eindruck entstehen.
Seeber: Wenn Stimme ins Spiel kommt, versucht man beim Hören fast immer, sprachliche oder emotionale Botschaften zu entschlüsseln.
Aperghis: Das stimmt. Was mir aber in der Instrumentalmusik fehlt, ist das Equivalent der Silben. Es gibt Noten und Töne, aber keine Verbindungen zwischen ihnen, wie in den Silben einer Sprache. Wenn ich komponiere, versuche ich die Silben durch etwas Ähnliches zu ersetzen. Dann vermittelt sich die Artikulation viel besser.
Seeber: Denken Sie dann in einer bestimmten Sprache? Silben sind ja nicht in jeder Sprache gleich.
Aperghis: Mich faszinieren fremde Sprachen. Wenn ich eine Melodie komponiere, frage ich mich zum Beispiel, wie sie klänge, wenn sie jemand aus Zentralafrika artikulieren würde. Die Vorstellung der Stimme und der Artikulation hilft mir, meine musikalischen Ideen zu konkretisieren.
Seeber: Haben Sie ein besonderes Verhältnis zur Klarinette? Sie haben viel für das Instrument komponiert. Dazu gehört auch das „Trio“ für Klarinette, Violoncello und Klavier von 1996.
Aperghis: Es hat sowohl mit Musikerfreundschaften zu tun, als auch mit dem Instrument selbst. Ich mag die Klarinette, auch die Bass- und auch die Kontrabassklarinette. Sie hat Farben, die ich liebe. Das Cello übrigens auch.
Seeber: Entstehen Ihre Stücke am Schreibtisch oder experimentieren Sie vorab mit den Musikern?
Aperghis: Das findet alles auf dem Papier statt. In diesem konkreten Fall, beim Klarinettentrio war es sogar so, dass ich mit den Musikern, die es uraufgeführt haben, noch nie gearbeitet hatte. Ich habe meine kleinen Geheimnisse zu Papier gebracht und ihnen die Noten geschickt.
Seeber: Das Klarinettentrio ist ausgesprochen kontrastreich. Charaktere, Situationen und Stimmungen wechseln unablässig. Steckt in dieser Musik, obwohl es sich um Kammermusik handelt, ein theatraler Gedanke?
Aperghis: In allen Stücken dieses Programms gibt es so eine Art verstecktes, heimliches Theater. Das ist bei mir oft der Fall. Es treten musikalische Personen auf, es gibt kleine Rezitative und Momente, in denen sich zwei Instrumente kontrapunktisch sehr eng miteinander verbinden. Das Trio von 1996 ist wie eine kleine Welt aus drei Instrumenten, die sich etwas zu sagen haben… oder auch nicht.
Seeber: Arbeiten Sie nach Plan, wenn Sie so komponieren? Oder nimmt Ihre Narration auch für Sie selbst unerwartete Verläufe?
Aperghis: Ich beginne immer nach Plan. Ist das Material aber entwickelt, ändere ich viel und schlage neue Wege ein. Am Ende folge ich den Wegen, die für mich selbst neu sind. Das bereitet mir den größten Spaß. Wenn die Musik an etwas erinnert, das ich schon einmal gemacht oder gedacht habe, versuche ich sie zu ändern. Das gilt auch für die große Form. Wenn die Wege ganz woanders hin führen, als geplant, dann nehme ich sie. Es sind aber Möglichkeiten, die mir das Material und auch die Form vorschlagen.
Seeber: Diese Spontaneität betrifft aber nicht das Grundmaterial?
Aperghis: Wenn ich von unterschiedlichen Wegen spreche, wird die Grundidee davon nicht betroffen. Ich füge unterwegs nicht gerne neues Material hinzu. Ich arbeite gerne mit sehr begrenztem Material, das ich variiere, sodass es zwar neu scheint, aber noch immer dasselbe ist.
Seeber: Wie sieht das im Streichtrio „Faux mouvement“ aus?
Aperghis: In diesem Stück gibt es zwei oder drei Materialideen. „Faux mouvement“ ist ein Satz, eine Bewegung, die nicht losgeht. Jedes Mal, wenn etwas Gestalt anzunehmen beginnt, stoppt die Entwicklung und alles steht wieder still. Das Stück schafft es nicht, sich zu konstituieren. Es findet eine Art Kampf statt zwischen den gegensätzlichen Materialideen. Es ist eine Musik, die es nicht schafft, mehr als ein paar Sekunden in Bewegung zu bleiben.
Seeber: „Mouvement“ nennt man im Französischen den Satz einer Sonate oder einer Sinfonie. Es bedeutet aber zugleich auch “Bewegung”. „Faux mouvement“ bedeutet „Falsche Bewegung“.
Aperghis: Die Musiker halten ja auch körperlich inne. Es gibt lange Phasen der Stille. Dann hängen die Bewegungen in der Luft, sie erstarren beinahe.
Seeber: Denken Sie beim Komponieren auch an die Musiker auf der Bühne? An ihre Gesten und Bewegungen?
Aperghis: Eigentlich nicht. Aber da sich in meiner Vorstellung immer so ein kleines imaginäres Theater abspielt, kann ich es auch nicht abstreiten. Wenn ich Kammermusik komponiere, denke aber ich nicht an die Körper der Musiker und ihre Bewegungen. Ich denke einfach nur an die Musik. Ich komponiere Klanggesten, keine körperlichen Gesten.
Seeber: Ein bestimmter Bogendruck bedeutet aber immer auch eine körperliche und damit auch theatrale Aktion.
Aperghis: Das fällt zusammen. Man merkt sofort, wenn der Körper nicht das ausführt, was in der Partitur steht. Dann kann man der Musik auch nicht gut zuhören. Wenn sich Musiker während einer Fermate bewegen, oder wenn im Augenblick einer gewollten Stille umblättern, verderben sie das Stück.
Seeber: „Fuzzy-Trio“ für Violine, Schlagzeug und Klavier von 2008 ist das jüngste Werk in diesem Programm und stellt die Interpreten vor immense Herausforderungen. Selbst wenn sie körperliche und geistige Höchstleistungen erbringen, ist es für sie fast unmöglich, diesen hyperkomplexen Notentext exakt zu interpretieren.
Aperghis: Das ist Absicht. Wenn es den Musikern gelingt, zusammen zu spielen, ist es wahrscheinlich Zufall. In diesem Trio ist jeder allein.
Seeber: Die Musiker wissen, dass sie eine Aufgabe zu erfüllen haben, an der sie scheitern müssen?
Aperghis: Ja, aber jeder für sich. Das Trio enthält eigentlich drei Solostimmen, die nichts voneinander wissen.
Seeber: Das Schlagzeug sorgt dabei mit dem Wechsel der Instrumente für klangfarbliche Veränderungen. Es gibt harte, trockene Sounds und dann wieder weiche, hallige. Spielen Sie damit?
Aperghis: Wenn die Gongs an die Reihe kommen, spielen Schlagzeug und Klavier sogar ausnahmsweise zusammen. Die Klänge fließen ineinander, das Schlagzeug färbt den Klavierklang. Aber dieses exakte Zusammenspiel ist die Ausnahme.
Seeber: Eine ebenso ungewöhnliche wie eindrucksvolle Kombination von Instrumenten bestimmt „Requiem furtif“ für Geige und Klanghölzer. „Furtif” bedeutet auf deutsch „flüchtig”. Ist nicht jede Musik und damit auch jedes Requiem flüchtig?
Aperghis: Es heißt so, weil es kurz ist. So kurz wie ein Windstoß. Ich habe das Duo 1998 für einen befreundeten Klarinettisten geschrieben.
Seeber: Das kurze Requiem hat aber keinen sakralen Charakter.
Aperghis: Nein, gar nicht. Religiös ist es nicht. Es ist ein kleines Ritual.
Seeber: Die Kombination der Geigenmelodie mit den trockenen, klappernden Akzenten der Klanghölzer erinnert an einen Totentanz.
Aperghis: Obwohl nur zwei Musiker beteiligt sind, ist auch diese Komposition ein kleines imaginäres Theaterstück. Es handelt von der Zeit, die vergeht und von der Ankunft des Todes. Es ist zwar ein sehr verinnerlichtes Theaterstück, aber das Theatrale ist vorhanden. Ich denke oft an die japanische Musik, an das No-Theater. Da gibt es auch die hölzernen Schlaginstrumente…
Seeber: …die den Gesang akzentuieren.
Aperghis: Hier provozieren die Klanghölzer die Geige, und umgekehrt provoziert die Geige die Klanghölzer. Und bei allem geht es um die verrinnende Zeit. So wie eine Sanduhr, die sich leert. Sandkorn für Sandkorn verschwindet, bis alles weg ist. Und dann ist der Tod da.
Seeber: Das letzte Stück, über das wir sprechen, ist das älteste. Es ist die Nr. 9 aus Récitations für Frauenstimme. „Récitations“ haben Sie 1978 für die Sängerin und Schauspielerin Martine Viard komponiert. Mit ihr haben Sie ihn ihrer experimentellen Gruppe „Atelier Théatre et Musique” in der Pariser Banlieue eng zusammengearbeitet.
Aperghis: Als ich die insgesamt 14 „Récitations“ komponiert habe, wollte ich etwas sehr Einfaches entwerfen. Jedes Stück stellt eine einfache Frage in Bezug auf die Stimme oder die Komposition.
Meine Grundidee war, dass sich diese Komposition nicht aus dem Gesang heraus entwickelt, sondern aus einer Konstruktion von Silben. Ich habe an eine Melodie aus Silben gedacht. Es gibt aber auch Tonhöhen, manchmal wird gesungen, dann gesprochen oder auch anders artikuliert. Im Kern besteht diese Musik aber aus einer Silbenkonstruktion.
Seeber: Diese Silben fügen sich aber auch zu Worten. „Récitations Nr. 9“ beginnt mit dem Wort „désir“, auf deutsch „Verlangen“. Damit sind wir sofort in einer Situation, die mit Bedeutung aufgeladen ist, in einem Gefühl.
Aperghis: Die Worte weisen eine Richtung. Sie erzählen eine kleine Geschichte. Manchmal kehren Worte wieder und widersprechen sich, manchmal auch nicht. Dennoch hat mich bei der Arbeit in erster Linie die Silbenkonstruktion interessiert.
Seeber: „Récitations“ sind vor 40 Jahren entstanden. Es gibt inzwischen viele, sehr unterschiedliche Interpretationen der Partitur, die viele Freiheiten lässt. Ist es für Sie wichtig, die Sängerinnen dabei zu begleiten und die Interpretation zu autorisieren?
Aperghis: Es gibt so viele Aufnahmen, aus allen möglichen Ländern und Erdteilen, dass ich nicht alle kenne. Was ich nicht mag, sind theatrale Versionen. Schauspiel und Narration machen dieses Stück kaputt. „Récitations“ muss puristisch interpretiert werden. Es liegt so viel Theatrales in dieser Musik. Dem muss man nichts mehr hinzufügen.
Seeber: In diesem Konzert singt Carl Rosman, der Klarinettist von Musikfabrik, die „Récitation“. Ein Mann!
Aperghis: Das wird viel ändern… (lacht)
Seeber: Haben Sie mit Carl Rosman an der Interpretation gearbeitet?
Aperghis: Uns verbindet eine seltsame Kooperation. Er bekommt die Noten und erarbeitet seinen Part, das ist ja in der Regel die Klarinette, und wenn er fertig ist, schickt er mir eine Aufnahme. Ich lasse ihn ganz allein arbeiten, und jedes Mal ist das Ergebnisperfekt.
Seeber: Die Musikfabrik aus Köln spielt in diesem Konzert ein ganzes Programm mit Ihren Kammermusikwerken. Wo beginnt oder endet bei Ihnen Kammermusik? Ist die Zahl der Musiker ausschlaggebend oder das Fehlen eines Dirigenten? Oder definieren Sie Kammermusik durch den Raum, in dem sie gespielt und gehört wird?
Aperghis: Die Zahl der Mitspieler ist sicher wichtig. Ich definiere Kammermusik aber vor allem durch eine geistige Haltung. Wird eine Musik mit kammermusikalischem Geist erarbeitet und gespielt, so wie es ein Trio oder ein Streichquartett tun würde? Das bedeutet, aufeinander zu hören, das Werk gemeinsam zu erarbeiten, von Musiker zu Musiker. Ob es auch einen Dirigenten gibt, spielt eigentlich keine Rolle. Es gibt Dirigenten, die auch mit größeren und großen Besetzungen so arbeiten, als hätten sie es mit Kammermusik zu tun. Sie schaffen eine kammermusikalische Situation. Und das ist wichtig.
In einem Orchester erfüllen die einzelnen Musiker ihre Aufgabe oft sehr gut, aber beschränken sich auf ihren Part. Das ist ein ganz anderes Musikverständnis. Ich liebe Ensembles, die kammermusikalisch arbeiten, wo man hört, wie die Musik beim Spielen entsteht. Wenn Ensembles wie Musikfabrik oder Klangforum Wien mit 23 Musikern auf die Bühne gehen und zu spielen beginnen, ist das für mich Kammermusik. Kammermusik hat keine festen Grenzen.
Das Gespräch fand im Januar 2018 statt.
Weitere Informationen zum Ensemblekonzert mit dem Ensemble Musikfabrik am 17.3.2018 finden Sie auf www.br-musica-viva.de.
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