Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Franck Ollu
Samstag, 26. September 2020 | Prinzregententheater München | 19.00 Uhr
Sonntag, 27. September 2020 | Prinzregententheater München | 19.00 Uhr
Bitte beachten Sie, dass die Konzerte bereits um 19.00 Uhr beginnen.

Programm
wolfgang rihm [*1952]
Stabat Mater [2020]
für Bariton und Viola
Münchner Erstaufführung
Jagden und Formen [2008]
für Orchester
Münchner Erstaufführung
Mitwirkende
Christian Gerhaher, Bariton
Tabea Zimmermann, Viola
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Franck Ollu, Leitung
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Zum Programm
Zwei Jahrzehnte und zwei Welten trennen die beiden Kompositionen Jagden und Formen und Stabat mater von Wolfgang Rihm voneinander. Das eine ist eine expansive, dynamische und stellenweise geradezu wilde Orchesterkomposition aus einer Werkphase, in der sich der Gestaltenreichtum seiner Musik zunehmend zum Klangstrom verflüssigte. Eine entfaltete kollektive Virtuosität prägt das Werk. Das andere bildet eine musikalische Reflexion über die zwanzig Strophen des populären mittelalterlichen Texts, der von der trauernden Maria handelt. Es ist zwar „nur“ ein Duo, doch mit den expressiven Verschlingungen der beiden Stimmen dringt es in die verborgensten Tiefen der menschlichen Psyche ein. Christian Gerhaher und Tabea Zimmermann, für die das Stück entstand, interpretieren das Werk gleich nach der Berliner Uraufführung bei der musica viva zum zweiten Mal.
Werkinformationen
1. Stabat mater dolorosa Iuxta crucem lacrimosa, Dum pendebat filius; |
1. Schaut die Mutter voller Schmerzen, wie sie mit zerrißnem Herzen unterm Kreuz des Sohnes steht; |
2. Cuius animam gementem, Contristantem et dolentem Pertransivit gladius. |
2. Ach! wie bangt ihr Herz, wie bricht es, da das Schwerdt des Weltgerichtes tief durch ihre Seele geht! |
3. O quam tristis et afflicta Fuit illa benedicta Mater unigeniti! |
3. O wie bittrer Qualen Beute ward die Hochgebenedeite Mutter des Gekreuzigten! |
4. Quae maerebat et dolebat, Et tremebat, cum videbat Nati poenas incliti. |
4. Wie die bange Seele lechzet! Wie sie zittert, wie sie ächzet, des Geliebten Pein zu sehn! |
5. Quis est homo, qui non fleret, Matrem Christi si videret In tanto supplicio? |
5. Wessen Auge kann der Zähren Bey dem Jammer sich erwehren, der die Mutter Christi drückt? |
6. Quis non posset contristari, Piam matrem contemplari Dolentem cum filio? |
6. Wer nicht innig sich betrüben, der die Mutter mit dem lieben Sohn in solcher Noth erblickt? |
7. Pro peccatis suae gentis Iesum vidit in tormentis Et flagellis subditum. |
7. Für die Sünden seiner Brüder, sieht sie, wie die zarten Glieder schwehrer Geisseln Wuth zerreißt: |
8. Vidit suum dulcem natum Morientem, desolatum, Cum emisit spiritum. |
8. Sieht den holden Sohn erblassen, Trostberaubt, von Gott verlassen, still verathmen seinen Geist. |
9. Eia, mater, fons amoris, Me sentire vim doloris Fac, ut tecum lugeam. |
9. Laß, o Mutter, Quell der Liebe, laß die Fluth der heil‘gen Triebe strömen in mein Herz herab! |
10. Fac, ut ardeat cor meum In amando Christum Deum, Ut sibi complaceam. |
10. Laß in Liebe mich entbrennen, ganz für den in Liebe brennen, Der für mich sein Leben gab. |
11. Sancta mater, illud agas, Crucifixi fige plagas Cordi meo valide. |
11. Drück, o Heilge, alle Wunden, die dein Sohn für mich empfunden, tief in meine Seele ein! |
12. Tui nati vulnerati, Iam dignati pro me pati, Poenas mecum divide. |
12. Laß in Reue mich zerfließen, mit ihm leiden, mit Ihm büßen, mit Ihm theilen jede Pein! |
13. Fac me vere tecum flere, Crucifixo condolere, Donec ego vixero. |
13. Laß mich herzlich mit dir weinen, mich durchs Kreuz mit Ihm vereinen, sterben all mein Lebenlang! |
14. Iuxta crucem tecum stare, Te libenter sociare In planctu desidero. |
14. Unterm Kreuz mit dir zu stehen, unverwandt hinauf zu sehen, sehn‘ ich mich aus Liebesdrang. |
15. Virgo virginum praeclara, Mihi iam non sis amara, Fac me tecum plangere. |
15. Gieb mir Theil an Christi Leiden, laß von aller Lust mich scheiden, die ihm diese Wunden schlug! |
16. Fac, ut portem Christi mortem, Passionis eius sortem Et plagas recolere. |
16. Auch ich will mir Wunden schlagen, will das Kreuz des Lammes tragen, welches meine Sünde trug. |
17. Fac me plagis vulnerari, Cruce hac inebriari Ob amorem filii. |
17. Laß, wenn meine Wunden fließen, liebestrunken mich genießen dieses tröstenden Gesichts! |
18. Inflammatus et accensus, Per te, virgo, sim defensus In die iudicii. |
18. Flammend noch vom heilgen Feuer, deck, o Jungfrau, mich dein Schleyer Einst am Tage des Gerichts! |
19. Fac me cruce custodiri, Morte Christi praemuniri, Confoveri gratia. |
19. Gegen aller Feinde Stürmen Laß mich Christi Kreuz beschirmen, sey die Gnade mein Panier! |
20. Quando corpus morietur, Fac ut anima donetur Paradisi gloriae. |
20. Deckt des Grabes düstre Höhle Meinen Leib, so nimm die Seele Auf ins Paradies zu dir! |
Dichtung aus dem 13. Jahrhundert | Übertragung Christoph Martin Wieland 1779 |
Latenter Eros
Max Nyffeler: Der Text ist ein Klassiker der katholischen Liturgie und stammt aus der Zeit des Franz von Assisi. Zahllose Komponisten haben sich auf ihn eingelassen. Was macht ihn so interessant für eine Vertonung?
Wolfgang Rihm: Ich sehe darin weniger einen Bestandteil der Liturgie (welcher eigentlich?) als eine Dichtung, einen subjektiv dichterisch gestalteten Betrachtungsmoment. Ein (wohl männlicher) Betrachter eines Bildwerks gibt sich seinen Gedanken und Fantasien hin.
Max Nyffeler: Das Stabat mater weist starke formale Ähnlichkeiten mit der ungefähr gleichzeitig entstandenen Sequenz des Dies irae auf. Beide haben dasselbe starre Versmaß und die gleiche Strophenform mit 2×3 Zeilen plus Endreim. Welche Möglichkeiten bietet dieser litaneihafte Charakter der Komposition?
Wolfgang Rihm: Sicher hat mich dieses „Litaneihafte“ am wenigsten interessiert. Ich folgte den emotionalen Kurven und Gestaltwechseln, die der Text offenlegt.
Max Nyffeler: Der emotionale Gehalt des Textes bildet einen krassen Gegensatz zur strengen Form. Was ist aus Ihrer Sicht die stärkere Kraft?
Wolfgang Rihm: Als stärkste formende Energie empfand ich immer den von Anfang an wirksamen, erst latenten, dann immer offener hervorbrechenden Erotismus dieses eigenartigen Textes. Er öffnet immer stärker ambivalent geladene Bereiche.
Max Nyffeler: Das Formschema der zehn Doppelstrophen mit den trochäischen Rhythmen und den Endreimen steht unverrückbar fest. Soll man sich ihm fügen oder dagegen ankomponieren?
Wolfgang Rihm: Ich folgte ganz dem Text, seinen Reizmarken, seinen Gehalt-Feldern. Nicht etwa, um deren Reizungen programmmusikalisch zu beantworten, sondern um individuelle Gegenbewegungen aufzuspüren: also, um dem Text einen Resonanzraum zu verschaffen, den ihn nicht nur verdoppelnd spiegelt.
Max Nyffeler: Nach der vierten Doppelstrophe gibt es im Text und in der Komposition einen deutlichen Einschnitt. Die subjektive, innere Bewegung nimmt überhand und überwuchert gleichsam das fixe Formschema.
Wolfgang Rihm: Es ist das Wörtchen „Eia“, das eine neue Dimension hereinreißt. Es spricht der Betrachter, er tritt in einen intimen Dialog mit der Mutter-Gestalt „Maria“. Das kleine Wort hat auffordernden Charakter, es gehört aber auch ins kindliche Repertoire, erinnert an Wiegenlieder etc. Sofort assoziieren wir die ausdruckshafte Nähe einer ihr Kind wiegenden Muttergestalt mit der hier ikonographisch noch gar nicht angesprochenen Figurenkonstellation der „Pietà“. Als würde diese spätere – also zukünftige – Figur auf die unter dem Kreuz stehende Mutter projiziert. Diese wird geradezu distanzlos angegangen: „Fac, ut …“ – „Mach, dass …“, gesteigert sogar: „Fac me…“ – Mach, dass ich…“. Der Betrachter wird in seinen Fantasien geradezu übergriffig. Seine Meditation erreicht kritische Qualität. Dementsprechend ändert sich die Klangrede: vom zu Anfang eher berichtend objektiven Ton in eine subjektiv agitierende, direkte Anrede.
Max Nyffeler: Das Stück beginnt und endet auf demselben Ton c‘, und nach der Erregungskurve im zweiten Teil folgt eine Beruhigung, was wie ein Gebet wirkt. Auffällig ist, dass in den letzten drei Zeilen, die als Coda dienen, der zuvor kunstvoll variierte Versrhythmus lang-kurz, lang-kurz nun praktisch nackt in Erscheinung tritt.
Wolfgang Rihm: Am Ende wollte ich eine Art „Absehen“ gestalten. Aus den vorher durchaus der Erregung entstammenden Figuren in ein unbewegtes, objektives und zuständliches Betrachten, als würde innegehalten und der Protagonist würde erwägen: er könnte zu weit gegangen sein. Das sollte in lakonischer Form geschehen, kein erneutes Erregen artikuliert sich. Daher die „geschlossene“ Prim im Gegensatz zur eröffnenden offenen“ Oktav des Beginns. „c“ ist also nicht gleich „c“.
Max Nyffeler: In seinem bis heute konkurrenzlos populären Stabat mater arbeitet Giovanni Battista Pergolesi zu Beginn mit den Sekundreibungen von Sopran- und Altstimme über dem Basso continuo und steigert damit die Expressivität bis zur Schmerzgrenze. Welche expressiven Ersatzstrategien gibt es mit nur einer Singstimme und einem Streichinstrument?
Wolfgang Rihm: Es gibt keine „Ersatzstrategien“: Vorhaltsbildungen und Sekundreibungen sind auch bei meinem Stück integraler Bestandteil der Harmonik. Natürlich war es für mich als Pubertierenden Pergolesis Stabat mater, das mir den unauslöschlichen Keim des sehrend Erotischen eingab. Solch ein Eindruck bleibt und fruchtet – und wenn es 53 Jahre später ist…
Max Nyffeler: Maria ist ein komplexer Charakter und in der katholischen Lehre eine der geheimnisvollsten Figuren. Sie hat Jesus als etwas ihr Fremdes, Unbegreifliches empfangen, und als Mutter betrauert sie ihn nun als ihr leibliches Kind, obwohl sie vermutlich ahnt, dass sie das Objekt eines göttlichen Plans ist. Spielen solche theologischen Gedanken bei der Komposition eines „Stabat mater“ eine Rolle? Oder steht hier Maria einfach als Allegorie für die Trauer einer Mutter um ihr Kind, für Leiden und Mitleiden ganz allgemein?
Wolfgang Rihm: Selbstverständlich wird die Arbeit an einem „Stabat mater“ vor allem durch diese komplexe Figur Maria inspiriert. In ihr zeigen sich Schichten der menschlichen Psyche bis in abgründige Bereiche – und es sind dabei, wie stets, nicht nur die Abgründe der Gestalt selbst, sondern auch die ihrer Gestalter/ und Betrachter/innen.
Max Nyffeler: Muss ein Komponist weibliche Gefühle kennen, um sich in diese trauernde Mutter hineinzuversetzen?
Wolfgang Rihm: Müssen muss man gar nichts, aber wenn man sich nicht absichtlich verschließt, kann man in seiner / oder ihrer Gestaltung die Fülle der menschenmöglichen Gefühlswerte wahrnehmen. Trotzdem hilft das wenig beim eigentlichen kompositorischen Geschehen. Noch soviel Empathie ersetzt nicht die Gefühlssicherheit beim künstlerischen Entscheiden – und diese fußt auf Intuition und Metier.
Max Nyffeler: Soweit ersichtlich hat noch keine Frau ein „Stabat mater“ komponiert. Woran könnte das liegen?
Wolfgang Rihm: Das weiß ich nicht.
Das Interview erfolgte in schriftlicher Form.
Der Fluss der Dinge
Max Nyffeler: Jagden und Formen ist in zwei Versionen vorhanden. Die erste entstand zwischen 1995 und 2001, die zweite, heute gespielte 2008. Version 1 ist unmittelbar im Anschluss an die als unabgeschlossener Prozess konzipierte Orchesterkomposition Vers une symphonie fleuve entstanden, die eine neue Phase in Ihrer Entwicklung einleitete. Sie charakterisierten dieses Werk als einen „assoziativen Strom der Ereignisse: Flussformen, Strömungen, Stauungen und Sturzfluten“. Trifft diese Bezeichnung in gewisser Weise auch auf Jagden und Formen zu?
Wolfgang Rihm: Sicher. Aber ich muss hier etwas unterscheiden: Es gibt keine „zwei Versionen“ von Jagden und Formen. Es gibt immer wieder erneute „Zustände“ dieses Kompositionsprojekts. Der bislang letzte stammt von 2008. Er ist der reichste. „Zustand“ meint: Wir befinden uns im gleichen Werk, das sich immer weiter anreichert mit Kommentaren, Einlassungen, Ausweitungen, Überschreibungen, Einschüben etc. Es geht um den Fluss, das Prinzip permanenten Gestaltwandels. Architektur als Gegenprinzip wird vom Fluss mitgeführt. So finden sich immer wieder abgeschlossene Einheiten in der Strömung, aber diese Formen jagen dahin, sie stehen nicht fest.
Max Nyffeler: Ist der Titel so zu verstehen, dass hier zwei gegensätzliche Prinzipien, ein dynamisches und ein statisches, aufeinanderprallen?
Wolfgang Rihm: So ist es – das Statische wird Teil der Dynamik. Die Prinzipien durchdringen einander. Wahrscheinlich ist das nur in der Musik möglich. Dort kann auch die subjektive Aktion integraler Bestandteil eines objektiv gestalteten Formzusammenhangs sein. Die Subjektivität scheint einen Ort zu haben, wir finden sie aber nicht vor, wenn wir nach ihr suchen. Einfach schon deshalb, weil Musik unablässige Bewegung ist: Sie ist immer bereits vergangen.
Max Nyffeler: Was unterscheidet den letzten Zustand vom vorhergehenden?
Wolfgang Rihm: Der letzte Zustand ist durch viele Einschübe, durch solistische Aktionen, konzertante Einsprengsel und immer weitergetriebene Formen, die in den Gesamtstrom integriert sind, am reichsten gestaltet im bisherigen Prozess. Wahrscheinlich bleibt das auch jetzt so, ich werde wohl nicht mehr daran weiterkomponieren. Wie gesagt: alles was vorher war, ist im späteren Zustand enthalten.
Max Nyffeler: In der Partitur von Jagden und Formen steht „für Orchester“. Die Bläser sind größtenteils doppelt besetzt, es gibt sogar eine Tuba, dazu Gitarre, Harfe und Klavier sowie drei Schlagzeuger. Es gibt aber nur solistische Streicher. Welche Überlegungen stecken hinter dieser für ein Orchester untypischen Besetzung?
Wolfgang Rihm: Es gibt keine Tuttistreicher, eine Entscheidung, die die konzertante Virtuosität des Ganzen steigert. Das Stück wird so zu einem großen Konzert für Orchester.
Max Nyffeler: Bei einem Orchesterstück ohne chorische Streicher ergeben sich vermutlich Probleme mit dem Klanggleichgewicht, aber auch ganz neue Möglichkeiten. So werden hier beispielsweise einzelne Instrumente in der Art von kleinen Concertini miteinander kombiniert. Das Verhältnis von Solo und Tutti wird neu definiert. Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Wolfgang Rihm: Von Fall zu Fall, also individuell. Sehr einprägsam zeigen sich die Duo-Partien von Viola und Englischhorn, die den Gesamtklang immer wieder bestimmen, oder das Violin-Duo vom Anfang, das wie ein thematisch-motivisches Reservoir in die Gesamtform hineinwirkt. Dieses Duo entstand übrigens mitten im Kompositionsprozess. Der „frühere“ Anfang kann am Beginn der Komposition „Gejagte Form“ verfolgt werden. Dieses Stück ist eine Art Mutter-Form des Ganzen. Sein Ende bezeichnet auch das wirkliche Ende der Großform.
Max Nyffeler: Welchen Stellenwert hat der Aspekt der Virtuosität im Gesamtkonzept des Stücks?
Wolfgang Rihm: Virtuosität kennzeichnet die Gangart dieser Komposition. Sie ist nicht die Hauptsache. Die Musikerinnen und Musiker werden sowieso immer besser will mir scheinen. In meiner Jugend hörte ich ständig, dies oder jenes sei „unspielbar“ – aber das war die Zeit, als auch Richard Strauss noch als unspielbar galt…
Das Interview erfolgte in schriftlicher Form.