Die Uraufführung von Milica Djordjevićs „Mit o ptici“ war für den 19. Juni 2020 geplant, musste dann aber pandemiebedingt verschoben werden. Am 28. Oktober 2022 kann das Werk nun endlich bei der musica viva im Herkulessaal der Residenz uraufgeführt werden. Anselm Cybinski sprach mit Milica Djordjević über ihr neues Werk und wie sie als Komponistin die Corona-Zeit erlebt.
Anselm Cybinski: Als wir Mitte März 2020 über Deine eben abgeschlossene Partitur für Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks sprachen, ging der Lockdown gerade los. Die ursprünglich für Juni 2020 geplante Uraufführung war noch nicht abgesagt. Wie ist es Dir ergangen in den vergangenen Monaten? Die selbst gewählte Arbeitsquarantäne kennst Du ja ganz gut…
Milica Djordjević: Das stimmt. Wenn ich an einer Partitur arbeite, fühlt es sich oft so an, als befände ich mich inmitten eines Wirbels, in einer Blase oder einem Tunnel. Es gibt dann gar nichts Anderes mehr, die Welt ist förmlich ausgeschlossen. Aber diese Art von Isolation ist Ergebnis einer persönlichen Entscheidung. Sobald ich das Bedürfnis danach verspüre, kann ich rausgehen, kann feiern und mit Freunden zusammen sein. Dass jetzt kaum Kontakt zu älteren Menschen möglich war, dass es keine Berührungen, keine Nähe gab, habe ich als wirkliche Belastung empfunden. Und natürlich war das Fehlen von Livemusik eine schmerzliche Erfahrung. Man muss die Musik eben doch mit vielen anderen Menschen gemeinsam erleben – die Begegnung zwischen Akteuren und Publikum ist schlichtweg unverzichtbar!
Anselm Cybinski: Hat die Krise Dich existenziell in Bedrängnis gebracht?
Milica Djordjević: Zum Glück noch nicht. Sicher, einige Aufführungen wurden abgesagt. Kurse, Workshops, Jury-Teilnahmen sind weggefallen, das hat wirtschaftliche Einbußen zur Folge. Andererseits habe ich für Auftragswerke, deren Uraufführungen verschoben wurden, ein Honorar erhalten – auch von der musica viva – und leide vorerst keine Not. Die Lage für freischaffende Musikerinnen und Musiker ist zum Teil ja wirklich dramatisch, auch hierzulande – obwohl die Perspektiven für unsere Branche in England oder den USA noch ungleich düsterer sind. Hier in Berlin hat man mitunter den Eindruck, dass langsam wieder fast alles erlaubt ist. Nur wir Künstler dürfen nichts machen. Das ist sehr enttäuschend. Kein Mensch weiß, welche Ensembles, welche Festivals nach der Krise noch da sein werden.
Anselm Cybinski: Und Dein persönlicher Blick in die Zukunft?
Milica Djordjević: Ich bin mir sicher, dass das Leben früher oder später wieder richtig losgehen wird. Sogar mitten in der Lockdown-Phase habe ich einige sehr schöne Einladungen erhalten. Aber ich glaube wir sollten uns auf ein paar schwierige Jahre einstellen. Wie lange tiefe Krisen nachwirken können, das habe ich als Jugendliche in Serbien erfahren…
Anselm Cybinski: Hast Du eine Vorstellung davon, wie Du Mit o ptici erleben wirst, wenn das Stück Ende Oktober 2022 dann zur Aufführung kommt, rund zweieinhalb Jahre verspätet?
Milica Djordjević: Schwer zu sagen! Das Stück war eine irrsinnige Arbeit, eine lange, schwierige und abenteuerliche Reise, auf der ich sehr viel gelernt habe. Ich fühlte mich so erschöpft, so leer danach! Das Glück, es überhaupt geschafft zu haben, überwiegt noch immer. Normalerweise brauche ich eine ganze Zeit, um eine Art objektivierender Distanz zu einem Stück zu gewinnen. Ich vermute, ich werde Mit o ptici aber immer noch als »mein Stück« empfinden. Wahrscheinlich werde ich es erkennen wie einen guten Freund mit dem ich viel geteilt und erlebt habe – und dennoch sehr überrascht sein.
Anselm Cybinski: Du vertonst Ausschnitte eines Versepos’ des jugoslawischen Dichters Miroslav Antić. Der Mythos des Vogels ist eine Parabel auf den schaffenden Künstler und das unkontrollierbare Eigenleben, das dessen Geschöpfe annehmen können. Wie kamst Du auf Mit o ptici?
Milica Djordjević: Diese wunderbare Dichtung verfolgt mich seit zwanzig Jahren. Sie erzählt eine sehr vielschichtige, aufrichtige und wirklich mutige Geschichte, die starke Resonanz in mir auslöst. Das Buch ist 1979 in Novi Sad herausgekommen und im Ausland so gut wie gar nicht rezipiert worden.
Anselm Cybinski: Worum geht es in Mit o ptici?
Milica Djordjević: Ein Künstler erschafft am Fluss einen Vogel aus Sand und Wasser. Sogleich beginnt der Dialog zwischen den beiden. Der Künstler entlässt den Vogel schließlich in die Freiheit: weil er ihn liebt und an die Reinheit und Ehrlichkeit dieses Wesens glaubt, dem er so viel von sich selbst mitgegeben hat. Nach einem Jahr der Abwesenheit kehrt der Vogel jedoch als wahres Monster zurück. Er hat sich in ein hässliches Wesen verwandelt, ist überströmt von Blut. Offenbar ist er der Welt da draußen gar nicht gewachsen. Der Künstler will sein Scheitern nicht eingestehen und tötet den Vogel. Doch das hilft nichts. Das Tier ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, es gebiert sich von Neuem und zwingt seinen Schöpfer schließlich dazu, es zu akzeptieren, so wie es ist.
Anselm Cybinski: Wie bekommt Antić diese Bedeutungsfülle literarisch zu fassen?
Milica Djordjević: Mit o ptici ist über weite Strecken als Dialog angelegt. Antić schreibt in Versen ohne Reime; auf ganz außergewöhnliche Weise verbindet er einen hohen Ton mit Witz und Ironie. Der Vogel verkörpert gleichsam das Verdrängte: Eitelkeit, Wut, Unsicherheit. Alles ist komplett nackt in diesem Text, zielt schonungslos auf den Punkt. Der Tonfall ist hart aber liebevoll und ungeheuer sinnlich.
Anselm Cybinski: Dies ist Dein erstes Werk für Chor – wie setzt Du ihn ein?
Milica Djordjević: Der Chor hat zwei Rollen. Einerseits gibt es die Ebene der Erzählung bzw. des inneren Monologs, die zumeist Alt und Tenor anvertraut ist. Auf der anderen Seite stehen die Dialoge, sie werden im Wechsel von Sopranen und Bässen wiedergegeben. Im ersten und zweiten Teil ist diese funktionale Trennung ganz klar. Im dritten Teil, wenn sich der Künstler und sein Vogel erneut begegnen, durchmischen sich die Dinge, wobei es hier ohnehin zu einem Maximum an Ungeordnetheit kommt. Der vierte Teil hebt diese Rollen dann komplett auf.
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