Coro 2.0, entstanden in einem intensiven Education-Projekt im Spätsommer 2023 am Gymnasium Max-Josef-Stift München, ist eine kollaborative Komposition von Schülerinnen der 12. Jahrgangsstufe in Anlehnung an Berio. Coro 2.0 nimmt ein Thema in den Mittelpunkt, das unsere aktuelle Lebenswelt betrifft wie kein anderes zu dieser Zeit: »Umwelt, Erde, Mensch«.
Pia Steigerwald im Gespräch mit Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt zu Coro 2.0
Steigerwald: Cathy, Sie werden anlässlich der musica viva-Aufführung von Luciano Berios Coro für 40 Stimmen und 44 Instrumente ein Education-Projekt mit dem Max-Josef-Stift in München durchführen und mit 20 [im Workshop 24] Schülerinnen der 12. Jahrgangsstufe eine neue kollaborative Komposition einstudieren und präsentieren. Was reizt Sie an der Komposition Coro, um sie einer jüngeren Generation zu vermitteln?
Milliken: Zunächst finde ich es wichtig, Wort und Musik gleichzustellen, wie es auch in Coro der Fall ist. Jedem Instrumentalisten ist ein Chormitglied zugeteilt, es bilden sich Duos. Mit dieser demokratischen Herangehensweise kann man unglaublich gut experimentieren. Mich interessiert es mit den Schülerinnen zu untersuchen, was mit der Textbildung und Struktur der Komposition Coro gemeint ist. Mein Anspruch ist es, mit den Schülerinnen ebenfalls ein Werk, aber ein neues zu bilden. Also Berios Coro nicht nur intellektuell anzugehen, sondern ganz physisch und praktisch die Idee von Liebe, von Arbeit (Neruda) und Leben zu untersuchen und wie man das im Hier und Jetzt, auf individuelle Weise ausdrücken könnte unter Berücksichtigung der Kompositionsweise von Luciano Berio.
Steigerwald: Luciano Berio nimmt in Coro das Thema des Volksliedes auf, es werden aber bis auf ganz wenige Ausnahmen keine Volkslieder zitiert, sondern sehr unterschiedliche volkstümliche Techniken und Klanggesten aus verschiedenen Kulturkreisen präsentiert. Wie gehen Sie mit dieser Thematik um?
Milliken: Mir geht es um Transformation und Perspektivverschiebung. Die Schülerinnen sollen untersuchen, wie man mit teils bekanntem Material, also Texten, die ihnen bei Berio oder in der Literatur begegnen, aber auch Texten, die sie neu kreieren, eine Art Multischichtung und Vermischungen bilden können. Ich bin mir sicher, dass wir hier gemeinsam viel Abenteuerlust erfahren werden.
Steigerwald: Für Berio war Coro ein »work in progress«, eine »Anthologie verschiedener Arten des ›In Musik Setzens‹. Ist nicht auch ihr musikpädagogischer Ansatz des kollaborativen Komponierens genau das?
Milliken: Auf jeden Fall. Es ist aber auch das »In Text setzen«. Ich bin überzeugt davon, dass wir auf diese etwas andere Art und Weise unsere Gesamtanthologie ansteuern werden.
Steigerwald: Lucie, Bezüglich des Coro-Projektes sind Sie noch in der Planungsphase mit Cathy Milliken. Was muss dabei alles von Seiten der Schule berücksichtigt werden?
Wohlgenannt: Es braucht die Offenheit und Bereitschaft von allen 57 Seiten, die der betreffenden Lehrerkollegen, der Oberstufenkoordination, der Schulleitung und natürlich der Schülerinnen selbst, die sich auf das Projekt freuen.
Steigerwald: In welche Abschnitte wird sich das Projekt gliedern?
Wohlgenannt: Es gibt vier Phasen: eine von mir und meiner Kollegin Sarah Steiner geleitete Einführungsphase im Schulunterricht (Einführung in Berios Kompositionsweise anhand der Kompositionen Folksongs -und Stripsody mit musikpraktischen Elementen, Kennenlernen der Werkstruktur und –genese von Coro, musikalische Analyse ausgewählter Partiturstellen von Coro), dann eine Workshop-Phase mit Cathy Milliken, Dietmar Wiesner und Michael Schiefel, in der die Schülerinnen eine neue Komposition Coro 2.0 erarbeiten (kleine Kompositionsaufträge im Vorfeld durch Milliken, Erarbeitung eigener Text- und Klangbausteine auf Grundlage musikalischer Elemente in Coro, Stimm- und Instrumentaltraining für die Performance), eine Vertiefungsphase im Schulunterricht, in der das Erarbeitete gefestigt wird, flankiert durch einen musica viva-Konzertbesuch traditioneller persischer Musik des Mahbanoo Ensembles im Prinzregententheater, und schließlich die Präsentationsphase am 13. Oktober im großen Foyer der Isarphilharmonie, wo geprobt und aufgeführt wird vor Beginn des musica viva-Konzerts.
Steigerwald: Was ist der Vorteil des »Kollaborativen Komponierens«?
Wohlgenannt: Die Schülerinnen lernen die Musik nicht nur rezeptivanalytisch kennen, etwa durch das Lesen von Einführungstexten, das Studium der Partitur oder das Hören einer Aufnahme, sondern hier gibt es abseits des schulischen Alltags einen Spielraum für Gestaltung, insbesondere durch den hohen musikpraktischen Anteil und dadurch, dass sie nicht nur Interpretinnen sind, sondern auch Komponistinnen. Sie haben so die Möglichkeit, eine neue ästhetische Erfahrung zu machen, sich zu erproben und an ihre Grenzen gehen zu können.
Milliken: Ich freue mich, dass ich im Max-Josef-Stift Schülerinnen vorfinde, die schon ein breites musikalisches Fachwissen und instrumentale Fähigkeiten mitbringen. Im Kern geht es aber darum, dass eine Gruppe von Individuen unabhängig ihrer Vorkenntnisse gemeinsam neue Ideen schöpft, kreative Lösungen findet, um eine neues Werk hervorzubringen und es aufzuführen. Selbstverständlich bringt das auch ein gewisses Feuer und Ängste mit sich, aber daran können die Schülerinnen nur wachsen. Wie das von außen beurteilt wird, ist ein anderer Punkt. Die grundsätzlicheren Fragen, die dahinter stehen, sind vielmehr, wie man mit Kultur umgeht, wie man sie erhält, wie man sie weiterbringt, wie sie mit dem Menschen wachsen kann. Insofern ist für mich das kollaborative Komponieren eine neue Gattung von Komposition, die auch eine neue Betrachtungsweise erforderlich macht.
Steigerwald: Lucie, neben ihrer schulischen und musikpädagogischen Laufbahn als Gymnasiallehrerin und Hochschuldozentin beschäftigen Sie sich auch als Musikwissenschaftlerin mit politisch-historischem Musikunterricht, mit Kompositionen des 19.–21. Jahrhunderts, qualitativer Unterrichtsforschung, ästhetischen Praxen im schulpraktischen Musizieren sowie Gender-Aspekten im Musikunterricht. Wie reagieren die Schülerinnen auf zeitgenössische Musik?
Wohlgenannt: Es wäre vermessen, davon auszugehen, dass den Schülerinnen immer alles gefällt oder gefallen muss. Es geht vielmehr darum, Anknüpfungspunkte zu finden, die eine ästhetische Auseinandersetzung entfachen. Bei Coro sind es die Themen Liebe und Arbeit, die insbesondere gegen Ende der Schulzeit für Jugendliche und junge Erwachsene wesentlich werden. Die Zusammenarbeit mit der musica viva ist für uns etwas sehr wertvolles, weil es ein tolles Angebot ist, mit zeitgenössischen Werken und ihrer Aufführungspraxis im Hier und Jetzt, mit internationalen Künstler*innen und Interpret*innen in Kontakt zu kommen und sich mit der Materie individuell und offen auseinandersetzen zu können.
Das vollständige Interview finden Sie im Programmheft zum musica viva-Konzert mit Sir Simon Rattle am 13. Oktober 2023.
Präsentation
Das Projekt wird mit einer Vorführung von Coro 2.0 im Rahmen des musica viva-Konzerts am 13. Oktober um 19.20 Uhr im Foyer der Isarphilharmonie präsentiert.
Galerie
Fotos von der Aufführung von Coro 2.0
Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Sir Simon Rattle
Freitag, 13. Oktober 2023
Isarphilharmonie im Gasteig HP8, München
Werke von Vito Žuraj und Luciano Berio
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