Nikolaus Brass‘ In der Farbe von Erde Musik für Viola, 44 Streicher und zwei Schlagzeuger wird am 17. Februar 2023 mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni uraufgeführt. Das Werk ist ein Kompositionsauftrag der muscia viva. Max Nyffeler beschäftigte sich unter anderem mit dem Titel des Werkes.
Die Genese von Werktiteln verläuft oft in geheimnisvollen Bahnen. So auch bei der vorliegenden Uraufführung von Nikolaus Brass. Ein Hinweis in Form einer verbalen Eintragung befindet sich jedoch auf Seite 32 der Partitur, nach rund zwei Dritteln der Gesamtdauer: »… plötzlich, in der Farbe von Erde …«. Die sieben Takte, auf die sich die Eintragung bezieht, sollen dreimal gespielt werden und heben sich von ihrem klanglichen Umfeld stark ab. Die Musik bewegt sich hier in den leisesten Registern; die Streicher erzeugen mit Tremolo, Halbtonschwankungen und dem Spiel auf dem Steg ein feines, in sich bewegtes Klanggespinst, und in den transparenten Satz hinein spielt die Solobratsche ein zartes Melodiefragment in weiten Intervallen. Die Stelle wirkt wie ein Einschnitt in der Partitur, und tatsächlich hat sie der Komponist erst nach Fertigstellung des Stücks in den Klangfluss, der hier gerade einem Fortissimo entgegenstrebt, eingefügt. Als Resultat eines spontanen, »plötzlichen« Einfalls.
Doch was will uns die Musik und ihre Beschriftung an dieser Stelle sagen? Konfrontiert sie uns mit der Epiphanie einer verborgenen Kraft? Ist sie eine Illustration dessen, was der Kulturtheoretiker Karl Heinz Bohrer, mit Blick unter anderem auf Heinrich von Kleists Vision vom Einbruch eines Ganz-Anderen, einer Utopie, in das Dasein der Menschen, als »Plötzlichkeit« bezeichnet hat? Beim literarisch belesenen Komponisten mögen solche Motive vielleicht mit eine Rolle gespielt haben. Doch der Bezug der Partitureintragung und damit auch des Werktitels ist viel einfacher und zugleich sehr konkret.
Literarische Bezüge zu Philippe Jaccottet
Auf Nachfrage verweist Brass auf den vor einem Jahr verstorbenen französischsprachigen Schweizer Lyrikers Philippe Jaccottet und einen kurzen Text von ihm, der genau diesen Titel trägt: In der Farbe von Erde. Die poetische Prosa schlug bei Brass wie ein Blitz ein. Das Datum der Lektüre hielt er im Buch mit Bleistift fest: 27.6.20. Um was geht es in dem von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz ins Deutsche übersetzten Text von Jaccottet? Er notiert zunächst in stenogrammartiger Kürze, was er beim Gehen über einen schmalen Weg irgendwo in einer Waldlichtung wahrgenommen hat: »Wege, blutrote Flecken des Dunklen Mauerpfeffers, Ranken der Waldrebe, Wärme der untergehenden Sonne«, und weitet diesen minimalistischen Sachverhalt sogleich zur umfassenden Reflexion und Selbstreflexion aus. Genaue Wahrnehmung wird zum Ausgangspunkt eines unablässigen Staunens über die Einfachheit der Dinge und die Intensität, mit der sie auf ihn einwirken: »Zarte stille Spur, hinterlassen von all jenen, die hier gegangen sind (…) Menschenzeit, die ihre feinen Linien dem Boden einschreibt. Und fast augenblicklich, fast gleichzeitig die Bestürzung. Bestürzung ist nicht zu viel gesagt, wenn man sich eine ruhige, leise Bestürzung vorstellen kann, ohne jeden Krampf, ohne Aufruhr, ohne Lärm: Bestürzung, jäh, innerlich, dazusein, teilzuhaben, Anrecht zu haben auf diese Wärme der Erde (…) Darin liegt etwas ganz und gar, etwas vollkommen Unbegreifliches – oder zumindest, was man sogleich als solches empfindet, nicht schmerzhaft, sondern, im Gegenteil, beinahe freudevoll; beinahe, außerhalb jedes Gedankens, mit Dankbarkeit.« Auch wenn Brass den Text etwa neun Monate vor Fertigstellung der Partitur in die Hände bekam: Um eine programmmusikalische Vorlage handelt es sich nicht. Doch erkannte er darin etwas von seinen eigenen Gedanken. Was ihn an diesem Prosastück fesselte, war die poetische Kraft und Unmittelbarkeit, wie hier unscheinbare Dinge am Wegrand, denen man gewöhnlich kaum Beachtung schenkt, zum eingreifenden Erlebnis und zum Gegenstand tiefschürfender Reflexionen gemacht werden. Mehr noch: Wie die genaue Wahrnehmung bei Jaccottet das Ich zum Einssein mit der Natur und zur Geborgenheit in der Welt führt. Die Erde als Symbol des Lebens schlechthin, der Ort, aus dem das Leben kommt und in den es zurückkehrt. Und dann entdeckte Brass bei Jaccottet noch einen Gedanken, der das künstlerische Schaffen selbst betrifft: die Einheit von Kreation und Reflexion. »Beim Komponieren konzentriere ich mich ganz auf die entstehende Musik«, sagt Brass, »und gleichzeitig beobachte ich mich dabei als schreibender und hörender Komponist. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Potenzierung des künstlerischen Moments.« Die durch Jaccottets Text inspirierten sieben Takte, die er nachträglich in das Werk einfügte, sind insofern eine Reverenz an einen Geistesverwandten und Verdeutlichung seiner eigenen kompositorischen Gedanken in Form einer klanglichen Reflexion. […]
Den vollständigen Beitrag »Max Nyffeler: Die Farben der Erde zum Klingen gebracht« finden Sie im Programmheft des Konzert am 17. Februar 2023.
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