Lisa Streich, Förderpreisträgerin der Ernst von Siemens Musikstiftung, sprach im Interview mit Julian Kämper über ihre Komposition Jubelhemd. Benannt ist das »Concerto Grosso« nach der gleichnamigen Arbeit des österreichischen Künstlers Markus Schinwald: einem Hemd, das sich mit seinen nach oben gestreckten Armen ausschließlich in Jubelgeste tragen lässt.
Kämper: Lisa Streich, was dürfen wir uns unter einem »Jubelhemd« vorstellen?
Streich: Ich beziehe mich mit dem Werktitel auf das »Jubelhemd« des österreichischen Künstlers Markus Schinwald. Bei diesem Exponat handelt es sich um ein weißes Hemd, dessen Ärmel verkehrt herum, also nach oben angenäht sind, sodass potenzielle Trägerinnen oder Träger ihre Arme unweigerlich und permanent in die Höhe strecken müssten: ein körperlicher Zwang, ein forciertes Jubeln.
Kämper: Es könnte auch ein Dirigierhemd sein…
Streich: Ja, das stimmt. Das war allerdings nicht meine Assoziation. Der Dirigent streckt doch eher selten die Arme so hoch.
Kämper: Welche musikalische Idee verbinden Sie stattdessen damit?
Streich: Die Komposition war ein Auftragswerk von vier schwedischen Orchestern anlässlich des 250. Jubiläums der Schwedischen Königlichen Akademie für Musik. In den Vorgesprächen mit den Orchesterintendanten wurde der Wunsch an mich herangetragen, dass die Musik zu diesem Festakt doch fröhlichen Charakters sein sollte. Diese Anforderung, die ich eigentlich ignorieren wollte, blieb mir beim Schreiben immer im Kopf und ich überlegte, wie ich sie in dem neuen Stück umsetzen könnte ohne mich zu verkaufen. So eine Vorgabe kann sich zwanghaft anfühlen. Zu diesem Zeitpunkt sah ich zum ersten Mal Schinwalds »Jubelhemd« und es erschien mir als Sinnbild für den Gefühlszustand, in dem ich mich während des Komponierens befand. Konkret Bezug auf dieses Kunstwerk zu nehmen, fühlte sich dann sehr befreiend an, denn auf diese Weise machte ich die Problematik des forcierten Jubelns zu einem Thema der Komposition. […]
Kämper: Bestimmte Klanggesten, die wir beim Hören deutlich als Jubelmusik identifizieren können, sind über die gesamte Dauer präsent. Sie brechen aber nur gelegentlich in den Vordergrund durch. Also keine Präsentation zeremonieller Musik, sondern die Verweigerung dessen?
Streich: Es gibt zwei Schichten, die verschieden stark sind und sich gegenseitig ausradieren: zum einen das äußerlich hörbar jubilierende Moment, zum anderen ein Moment, das ebenfalls jubilierend ist, sich aber nach innen richtet – das sind Glocken, die ritornellartig in verschiedenen Tonhöhen erklingen. So entsteht etwas ganz Stilles, Schreitendes, was im besten Fall aber auch das erstere amplifizieren kann. Man spürt, dass es da eine Schieflage gibt. Wenn die Kirchenglocken läuten, ist es fast wie eine große Meditation, ein Jubel, bloß in eine andere Richtung.
Kämper: Messe und Konzert als Formen kollektiver und kontemplativer Erfahrung liegen ohnehin nah beieinander. Die vermeintliche Jubelmusik scheint immer wieder durch. Gibt es da musikhistorische Referenzen?
Streich: Diese tonalen Elemente haben alle einen Ursprung. Aber ich verändere sie. Ich spiele beispielsweise mit den Oktaven, sodass sie nicht mehr gut erkennbar sind. Die Tempi sind vollkommen anders als im Original. Und ich schichte die verschiedenen Referenzen auch, sie ereignen sich gleichzeitig.
Kämper: Zudem gibt es musikalisches Material, dass Sie aus Aufnahmen von Chorgesängen gewonnen haben.
Streich: Ich arbeite mit Akkorden, die Unreinheiten besitzen. Das ist eine Technik, die ich grundsätzlich benutze, nicht nur in diesem Stück. In diesem Fall habe ich aber versucht, Akkorde zu finden, die sehr strahlend oder gedeckelt sind. Dafür habe ich das Internet nach Aufnahmen von Chören durchsucht, wo solche Unreinheiten in kurzen Momenten hörbar sind. Zum Beispiel, weil falsch intoniert wurde und dadurch Intervallverhältnisse und Dreiklänge, die wir kennen, eine Spur anders klingen. Diese Ausschnitte, meist nur Millisekunden, analysiere ich auf ihre Frequenzspektren hin und transkribiere sie. Ich habe einen ganzen Katalog mit diesen Akkorden, kategorisiert nach verschiedenen Ausdrücken. Diese benutze ich kontinuierlich in meiner Arbeit.
Kämper: Ist es mit einem Schmunzeln verbunden, im akademischen Kontext das Falschsingen auf die Bühne zu bringen?
Streich: Nein, im Gegenteil. Es ist vielmehr die große Liebe für das Phänomen, dass man durch diese Unschärfen das, was man schon tausendmal gehört hat, nochmal neu hören kann. Es gibt in Jubelhemd noch einen weiteren außermusikalischen Bezug, nämlich die Fotografien der amerikanischen Künstlerin Sally Mann. Von ihr gibt es ein Bild, mit dem ich diesen Aspekt der harmonischen Unschärfe gerne anschaulich vermittle. Dieses Bild trägt den Titel »The Perfect Tomato«. Darauf sieht man eine Tomate auf einem Tisch. Auf diesem Tisch steht aber auch ein Mädchen, das die Arme zur Seite streckt. Die Fotografin richtet – nicht nur durch den Titel – den Fokus auf die Tomate, das Kind hingegen ist verschwommen. Die Schönheit in diesem Bild liegt darin, dass die Betrachterin ihre Aufmerksamkeit sofort dem Mädchen zuwendet, das durch die Unschärfe einem Engel gleicht. So ist das auch bei meinen Akkorden: Es gibt noch die Tomate, und die ist auch am lautesten. Aber das Spannende ist das, was verschwommen und unklar ist – also vor allem die vermeintlichen Fehler. […]
Dieser Blogbeitrag ist ein Ausschnitt des Interviews aus dem Programmheft des musica viva-Konzerts am 10. November 2023.
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Johannes Kalitzke
Freitag, 10. November 2023
Herkulessaal der Münchner Residenz
Streich: Jubelhemd
Kalitzke: Zeitkapsel (UA)
Ferrari: Histoire du Plaisir et de la Désolation
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