
„Ich habe in … the Brent geese fly in long low wavering lines … eine Textur kreiert, in der jeder einzelne Musiker solistisch zum Gesamtklang beiträgt, anstatt nur zurückgenommen im Tutti zu agieren.“ – Hans Thomalla spricht im Interview mit Leonie Reineke über seine Komposition, die am 17. Februar 2023 unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni uraufgeführt wird.
Leonie Reinecke: Die Komposition … the Brent geese fly in long low wavering lines … bezeichnen Sie als »Konzert für Orchester«. Mit dem Begriff »Konzert« verbindet man klassischerweise eine Gattung, bei der ein einzelnes Instrument solistisch im Vordergrund steht und in einen musikalischen Dialog mit dem Orchestertutti tritt. […] Was meint der Begriff nun im Fall Ihres neuen Stücks?
Hans Thomalla: Ich habe in … the Brent geese fly in long low wavering lines … eine Textur kreiert, in der jeder einzelne Musiker solistisch zum Gesamtklang beiträgt, anstatt nur zurückgenommen im Tutti zu agieren. Es ist eine Art Concerto Grosso, in dem alle Orchestermitglieder zum konzertierenden Ensemble gehören. Sie alle bewegen sich permanent zwischen den beiden Polen »solo« und »tutti« hin und her. Und dabei denke ich nicht nur an das musikalische Material, sondern auch an die Instrumentalisten auf der Bühne: Jeder solistische Musiker hat seinen eigenen, individuellen Auftritt – als wäre für einen kurzen Moment ein Scheinwerfer auf die jeweilige Person gerichtet. Einzelne Solisten treten aus dem Tutti heraus, verbinden sich vielleicht mit anderen zu Dreier- oder Fünfergruppen, stellen damit eine neue Figur dar und fügen sich dann wieder ins Tutti ein.
[…]
Aber ohnehin empfinde ich den typischen Orchesterklang gar nicht so sehr als Hindernis. Denn es geht mir weniger um neuartige oder abseitige Klanglichkeiten von Einzelinstrumenten, sondern im Fokus stehen vor allem Tonhöhenbeziehungen und Rhythmen. Mit diesen Elementen erzählt sich in dem Stück eine Geschichte – eine Geschichte von Klangbewegungen; von melodisch-motivischen Entwicklungen, die von einer großen Menschengruppe gemeinsam realisiert werden.
Reinecke: Ist ein Teil dieser Geschichte auch der Text, den Du der Partitur vorangestellt hast? Aus dem Gedicht Transitory, Momentary von Juliana Spahr stammt der Titel des Stücks und die Worte »long wavering lines« wiederum ließen sich problemlos als eine Beschreibung musikalischer Bewegungen lesen.
Thomalla: Ja, in dem Text – der mir übrigens erst mitten im Kompositionsprozess wieder begegnet ist – stecken durchaus Parallelen zu dem, was in der Musik passiert. Die Beschreibung der Flugbahnen und Zugwege der Wildgänse gleich zu Beginn des Gedichts führt wie ein Wegweiser in das Stück. Spannend ist aber auch, dass der Text selbst sich in Kurven und Kehren bewegt, wie die Gänse. Er führt durch ganz verschiedene Bilder und Kategorien. In einer Art schönem Herbstidyll fängt alles an, nach einer Weile aber landet man in einer Reflexion über Kunst. Und von dort aus geht es hin zu einer Beschreibung von Bewegung im öffentlichen Raum: der brutalen Beendigung einer Demonstration durch die Polizei. Diese Art der Fortspinnung und Weiterentwicklung von Gedanken korreliert durchaus mit den Prozessen in meinem Stück. Zu Beginn gibt es einen dominanten, recht schnellen Puls, dessen Schwerpunkte sich immer wieder leicht verlagern und auch in etwas völlig anderes umkippen können. Nach etwa einem Drittel erscheint eine ganz neue Klangwelt, die eher verträumt wirkt und fast in Richtung Ambient Music geht. An dieser Stelle hat sich also die Bewegungsform stark verändert.
Reinecke: Bewegung ist ein wichtiges Stichwort. Denn schon bei einem flüchtigen Blick in die Partitur springt sofort die rhythmische Ebene ins Auge. Durch das Stück zieht sich ein Puls von schnellen Achteln, der immer wieder auftaucht. Über weite Strecken haben wir es mit einem geraden Metrum zu tun, viele Passagen sind homorhythmisch organisiert. Das fällt auf, denn gerade im Bereich der zeitgenössischen Musik gibt es viele Komponistinnen und Komponisten, die lieber mit komplexen, teils undurchschaubaren Rhythmen arbeiten.
Thomalla: Meine Herangehensweise hat mit meinem Interesse an vertrauten Referenzsystemen zu tun. Dazu zählt einerseits das Metrum bzw. der Puls, andererseits die Tonalität. Beides sind Systeme, die den Spielern und den Hörern Bezugspunkte geben. Eine melodisches Motiv steht innerhalb eines tonalen Zusammenhangs nicht mehr völlig für sich, sondern es ist durch das Verhältnis zu seinem tonalen Umfeld bestimmt. Diese Zusammenhänge hören wir dann vielleicht als Spannung, als Entwicklung, als Übergang, als Trugschluss oder als Auflösung. […]
Das Gespräch wurde im November 2021 geführt. Das vollständige Interview mit Hans Thomalla finden Sie im Programmheft des Konzerts am 17. Februar 2023.
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